Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
einem seiner Aufenthalte in Paris war er mit der Überzeugung zurückgekehrt, dass sich mittels Elektrizität alle Übel der Welt beseitigen ließen. Für Don Emilio bedeutete die Elektrizität das Gleiche wie für Doña Maria del Roser der Spiritismus: die einzige Energie, die Dinge transformieren konnte. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden war ihre Ungeduld: Alles sollte immer schnell passieren. Und beide wollten selbstverständlich stets am Fortschritt teilhaben.
Don Emilio war bereit, seinen Beitrag zu leisten. Er gab alles auf, ließ sich in jenem Barcelona der großen Veränderungen nieder und gründete an der Straßenecke von Paseo de San Juan und Calle Diputación eine Fabrik für elektrisch angetriebene Automobile. Er hätte zwar lieber Verbrennungsmotoren entwickelt, aber der Katalane Francesc Bonet Dalmau war ihm darin ein wenig zuvorgekommen. Seither gab die Elektrizität dem armen Don Emilio nur Rätsel auf, die er nicht lösen konnte. Don Rodolfo hörte sich seine Sorgen an und beriet ihn.
»Was hältst du davon, wenn ich mir einen ausländischen Teilhaber suche?«, fragte ihn Don Emilio. »Ich habe von einem jungen Schweizer gehört, der könnte meine Rettung sein …«
Für Amadeo Lax begann die größte Veränderung seines Lebens noch in jener Woche. In der Fabrik von Don Emilio fühlte er sich wie der unglücklichste Mensch der Welt. Andere Kinder in seinem Alter waren dort als Lehrlinge angestellt, aber er spürte sofort, dass er nichts mit ihnen gemein hatte. Diese Jungen waren abgestumpft wie Tiere, ihre Fingernägel starrten vor Dreck, und wenn sie ihn überhaupt einmal ansahen, dann nur, um ihm misstrauische Blicke zuzuwerfen. In der Fabrik lernte er, Distanz zu ihnen zu wahren. Und noch zurückhaltender und stiller zu sein als zuvor.
Nach diesen unerträglichen Wochen ging er sofort ins Internat. Don Rodolfo setzte ihn dort an einem Montagmorgen um acht Uhr ab und verabschiedete sich von ihm mit einem Klaps auf die Schulter und einem einzigen Satz: »Ich hoffe, die Jesuitenpadres wissen, wie sie aus dir einen Mann machen können, mein Sohn.«
»Ja, Vater«, pflichtete der Junge bei.
Damals war Sarrià noch kein Stadtteil der Zona Alta von Barcelona. Um die Jahrhundertwende, also als Amadeo Lax Jesuitenschüler wurde, befand sich das Internat in einem fast neuen Gebäude fernab des zivilisierten Stadtlebens: Es lag in einem Nachbardorf mitten in den Hügeln, umgeben von Wäldern, Weinbergen, Gemüsegärten und angelegten Grünflächen. Die Nachnamen der Schüler klangen beeindruckend, denn die besten Familien schickten ihre Sprösslinge dorthin. Doch Amadeo verstand niemals deren Gründe.
Außer an den Wochenenden, wenn das Internat seine Pforten öffnete und die Schüler in der Schuluniform ihre Eltern im Patio empfingen, steckten sie die übrige Zeit in einem braunen Kittel, der ihnen im Winter keinen Schutz vor der hartnäckigen Kälte bot, die in ihre spartanischen Zimmer drang. Die Mahlzeiten waren kärglich, die Priester mürrisch, und der Unterricht – das Einzige von vorzeigbarer Qualität – basierte noch auf alten Prinzipien wie der Erniedrigung der Schüler und der Willkür der Lehrer. Hinzu kam die Abgeschiedenheit von der Welt, die die Padres verhängten. Zwischen Mitte September und Johanni, also fast Ende Juni, gehörten die Schüler ausschließlich zum Internat und durften unter keinerlei Umständen nach Hause fahren, nicht einmal an den wichtigen Feiertagen, dem eigenen Geburtstag, Familienfeiern oder wegen Krankheit. In letzterem Fall wurden die Schüler in der Krankenstation des Internats versorgt. Kein Wunder also, dass angesichts dieser Aussicht manche von der Einrichtung nur noch als »Burg ohne Wiederkehr« sprachen.
Dennoch gab es einige Schüler, die sich den strengen Regeln anpassten, und andere, die daran sogar Gefallen fanden. Amadeo jedoch war eine zu sensible Seele, um von dem Ganzen nicht besiegt zu werden. Nachts fröstelte er und weinte verstohlen unter der Decke. Die schrille Glocke, die zu nächtlicher Stunde die Zeit zum Aufstehen verkündete, nahm er oft wach und starr vor Kälte wahr. In der Kirche erschien ihm bei der Frühmette die Kälte noch eisiger. Im Patio saß er mit dem Rücken eng an der Mauer und sah den anderen beim Ballspiel zu. Im Refektorium aß er mit gesenktem Kopf und betrachtete die Frostbeulen an seinen Händen – andere Schüler hatten sie auch an Füßen und Ohren –, und dann ging es wieder in die Kapelle, in das
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