Die Geisterseherin (German Edition)
selbst Mut zusprechend, öffnete er leise die Tür seines Zimmers. Unten im Flur fiel gerade die Tür ins Schloss. Sayuri und seine Mutter waren also außer Haus und sein Vater würde erst in ein paar Stunden von der Arbeit mitgehen... er hatte also ein wenig Zeit.
Von neuem Tatendrang beflügelt stürzte er ins Bad und riss die Schränke dort einen nach dem anderen auf.
„Wo ist es nur?“
Er wühlte sich durch all die Sachen, die man in einem Badezimmer so fand. Rasierklingen seines Vaters, Handtücher, MakeUp seiner Mutter und von Sayuri, Shampoos und vieles mehr. Dann endlich fand er den schon leicht angestaubten kleinen Karton, nach dem er gesucht hatte. Das MakeUp von Sayuri ließ er im übrigen auch in seiner Tasche verschwinden. Seit dem Vorfall vor einer Woche nutzte sie dieses eh nicht mehr.
„Ob es wohl noch funktioniert?“, murmelte er leise fragend und öffnete die Packung mit dem Haarfärbemittel, die er vor einer gefühlten Ewigkeit einmal gekauft, aber nie angewendet hatte. Irgendwie war ihm immer etwas dazwischen gekommen und dann hatte er sie total vergessen. Erst gerade eben, als er seine Sachen zusammengepackt hatte, war ihm wieder eingefallen, dass er sie ja noch besaß.
Er beeilte sich, da er nicht wusste, wie lange genau seine Mutter fort sein würde und verteilte die dicke Flüssigkeit nach Anleitung in seinem Haar. Klar, sie hatte etwas von zehn Minuten gesagt, aber sie brauchte bei einem Einkauf immer länger, als sie sagte. Alleine die Tatsache, dass sie Sayuri mitnahm, war Beweis genug, dass sie mehr als nur ein Gewürz einzukaufen hatte!
Er ließ die Farbe lediglich eine Viertel Stunde einwirken, das war die Zeit, die man normalerweise brauchte, wenn man von der Wohnung zum Supermarkt wollte und dabei gemütlich lief. Wenn seine Mutter und Sayuri sich beeilt hatten, dann standen sie vermutlich gerade an der Kasse. Es wurde also knapp...
Er wusch in aller Eile die restliche Farbe aus den Haaren, ignorierte dabei, dass er das Handtuch, dass er benutzte, mit Farbflecken überzog und warf dann einen Blick in den Spiegel.
Megumi war nun endgültig aus dem Spiegel verschwunden, ebenso wie Yuki. Stattdessen blickte ihn ein schwarzhaariges Mädchen aus dem Spiegel an.
„Das ist besser“ Er lächelte traurig, packte seine Zahnbürste, die Zahnpasta, Duschzeug und ein Handtuch, trug sie in sein Zimmer und stopfte sie ebenfalls in seine Sporttasche.
Dann warf er sie über die Schulter und lief nach unten, ins Wohnzimmer. Einen Zettel aus einer Kommode fischend, schrieb er ein paar Worte auf, welche er an seine Eltern richten wollte. Es fiel ihm allerdings ziemlich schwer und für einen Moment zögerte er... ein letztes Mal. Aber dann warf er einen Blick auf das kleine Bild Megumi's, dass eingerahmt an der Seite stand und sein Gesicht verfinsterte sich.
Sie hätte nie gekniffen, sie hätte es durchgezogen...
Er hob den Stift erneut und setzte hastig in einer, noch mit Mühe lesbaren, Schrift ein paar Sätze auf das Papier:
„Hallo Mama, Hallo Papa.
Ich habe mich entschlossen meinen eigenen Weg zu gehen und nicht mehr im Schatten einer Lüge zu leben. Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste, dass mir die Courage gefehlt hat, euch offen gegenüber zu treten... aber dafür ist es jetzt eh zu spät.
Bitte sucht mich nicht, mir wird es gut gehen. Ich gehe nicht ohne Plan und werde auch nicht auf der Straße verenden, also macht euch keine Gedanken um mich. Wenn das Schicksal es so will, dann trifft man sich vielleicht noch einmal wieder.
Eure Yumi“
Er nutzte mit Absicht die weibliche Form am Ende des Briefes, als er ihn unterschrieb. Anfangs hatte er ihn noch mit „Yuki“ unterschreiben wollen, doch der neue Name, den er sich selbst gegeben hatte, gefiel ihn jetzt schon wesentlich besser und erschien ihm auch im Zusammenhang richtiger.
Es war nicht Yuki, der fort ging. Yuki war tot, seit langer Zeit. Er war gestorben, zusammen mit seiner Schwester.
Nein... es war Yumi, die ihren Weg ging.
Hastig und ohne einen weiteren Gedanken an die Auswirkungen seines Handelns zu verschwenden, stand er auf und rannte in den Flur, sprang regelrecht in seine Schuhe und verließ das Haus, dass für ihn so lange Zeit ein Zuhause gewesen war.
Er wusste, dass er es nie wieder sehen würde. Dass Ichihara selbst eine Stadt war, die er Zeit seines Lebens nicht mehr erblicken würde. Dennoch blickte er nicht einmal zurück, als er über die Straße hinweg in Richtung Innenstadt lief. Sein Weg lag auf einmal klar
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