Die Geisterseherin (German Edition)
und deutlich vor ihm, als hätte man ihm die Augen geöffnet. Er wusste, was er zu tun hatte und wenn alles gut lief, dann konnte er schon bald das Leben leben, dass er auch leben wollte.
Dort, wo er leben wollte.
Als das, als was er leben wollte.
Die Sonne strahlte über seinen Kopf, trocknete langsam die noch leicht feuchten, tiefschwarzen Haare. Der Wind strich angenehm kühl um seine Beine und das Gewicht der Tasche ruhte behutsam und wohltuend auf seiner Schulter, wie ein Anker in der Welt. Er war für die Zukunft bereit und in dem Moment, als er das Haus verlassen hatte, hatte sich auch sein Herz und damit sein Schritt beruhigt. Er schlenderte gemütlich, wenn auch auf Umwegen in Richtung der Innenstadt. Sein Ziel lag klar vor Augen und er hatte den ersten Schritt gewagt... seine falsche Identität abgeworfen, wie eine lästige Hülle.
Jetzt gab es niemanden mehr, für den er eine Rolle zu erfüllen hatte, niemand, der ihm sagte, wer er war und was er sein sollte. Er fühlte sich, wie ein Schattenschnitt oder eine Puppe, ohne Gesicht. Jemand, der seinen Platz in dieser Welt gerade erst anfing zu entdecken. Vergnügt begann er ein Lied zu pfeifen und die Menschen, die an ihm vorbeiliefen, blickten ihn freundlich lächelnd an, als würde seine Laune die ganze Welt beeinflussen können.
„Ich bin ein Neugeborenes auf dem Weg in die Zukunft“, sang er laut und nichts würde ihn davon abhalten.
Ein einzelner, winzig kleiner Wermutstropfen verblieb dennoch in seiner Seele, würde für immer an ihm haften bleiben.
Er hatte seine Liebe niemals gestehen können, war, wie so viele Menschen vor ihm, hoffnungslos verknallt gewesen. Auch, wenn er es sich nie hatte anmerken lassen.
Yuki's Verschwinden wurde zuerst überhaupt nicht bemerkt, jedenfalls von keinem Menschen. Ein ungünstiger Windhauch, verursacht durch die Öffnung der Vordertür, hatte das beschriebene Blatt vom Tisch gefegt und es dauerte einige Stunden, bis Sayuri, vor dem Fernseher sitzend, das Blatt auffiel.
Eine Person hatte die ganze Sache allerdings beobachtet... Q'nqüra, die Herrin der Zeit, saß in ihrem Büro über seinem Buch gebeugt und verfolgte jeden einzelnen Schritt, den er tat. Sie sah aktiv zu, seitdem er die Sachen in der Stadt gekauft hatte, wohl wissend, was geschehen würde. Steve hatte eine Weile lang neben ihr gesessen und sich erzählen lassen, was gerade geschah, war aber vor einigen Minuten zu Mikoto aufgebrochen, da die Feier in der Oper auf die beiden wartete. Er war nur sehr ungern gegangen, da Yuki sein Freund war und er sein großes Finale gerne miterlebt hätte. Dennoch hatte er ihn für einen Moment vergessen und sich auf seine Aufgabe konzentrieren müssen. So bekam er nicht einmal mehr mit, wie Yuki letztendlich seinen Entschluss fasste... und wohin es ihn eigentlich zog.
„Schade nur, dass er in der anderen Sache so gekniffen hatte...“, murmelte die Herrin der Zeit und schloss das Buch des Jungen. „Schade eigentlich, ich hätte gerne das Ergebnis dieser Enthüllung erlebt.“
Das Buch bei Seite schiebend, lächelte sie gequält. Sie hatte dieses Ende schon vor Wochen vorhergesehen, genauer gesagt... mit der Aushändigung von Yuki's Akte an Mikoto hatte sie selbst den Stein ins Rollen gebracht. Ein Flügelschlag des Schmetterlings, der einen Orkan verursacht hatte.
„Was Mikoto wohl jetzt dazu sagen würde?“
Sie holte das große Schwert aus einem Schrank, jenes Schwert, dass Steve ihr besorgt hatte. Sie lächelte gequält, als sie es ein paar Mal durch die Luft schwang, sich an jene Zeit, vor vielen hunderten Jahren, zurück erinnerte, als sie zu diesem Schwert hatte greifen müssen, um die Personen zu schützen, die sie geliebt hatte. Manchmal wünschte sie sich, zurückreisen zu können, in diese naive Ära. Aber selbst, wenn sie es könnte, wäre es dafür zu spät. Es war für alles zu spät, sie konnte nur noch dafür sorgen, dass der Untergang einigermaßen human vonstatten ging und ihre Rolle in dieser Geschichte weiter spielen.
„Tschüss, Mikoto...“
Vielleicht würde sie dann seinem Willen gerecht werden können. Es war längst dunkel geworden in der Oper. Die letzten Gäste waren enttäuscht gegangen und die Lichter der Bühne gelöscht. Stille lag über dem Raum und ließ jeden noch so kleinen Laut gespenstisch durch den Saal klingen. Es war lange nach Mitternacht und die Schlacht zwischen Mikoto und der Göttin Hatsumomo war bereits seit Stunden vorbei. Bald würde die Sonne sich im Osten erheben und
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