Die Geisterseherin (German Edition)
Schulfest.“
„Hat sie da auch gesungen?“
„Ja, Mama singt immer. Sie weiß, dass ich ihre Stimme mag. Früher hat sie Oper gesungen, aber jetzt singt sie nur noch für mich!“ So war das erste Gespräch zwischen Mikoto und ihrem ersten Psychiater dokumentiert worden und so ähnlich sollten alle weiteren Gespräche verlaufen.
Helfen konnte ihr niemand, egal was die Psychiater auch taten, Mikoto erzählte immer wieder, dass ihre Mutter sie besucht hätte. Am Ende gaben sie auf, erzählten dem besorgten Vater, dass sie mit der Zeit, wenn sie erwachsen werden würde, von alleine die Wahrheit erkennen würde.
Es sei, wie ein unsichtbaren Freund, den kleine Kinder ja so gerne hatten. Wurden sie größer verschwand auch der Freund zwangsläufig mit der Zeit. Und bei Mikoto sei dieser unsichtbare Freund eben ihre Mutter.
Mikoto's Mutter aber verschwand nicht, auch nicht, als Mikoto vierzehn Jahre alt wurde. Auch an diesem Tag, körperlich inzwischen längst mitten in der Pubertät, erzählte Mikoto davon, wie ihre Mutter sie besucht hätte.
Aus diesem Grund verließ der Vater mit ihr Takikawa, zog von einer Stadt in die nächste, bis er Ichihara erreichte.
In Nayoro hatte es insgesamt nur einen Monat gedauert, bis Mikoto wieder ihre Mutter „sah“, in Takikawa und Hakodate dauerte es immerhin bereits drei Monate und in Yuzawa ein halbes Jahr. In Nasushiobara erzählte Mikoto mehr als ein Jahr nichts von den Besuchen ihrer toten Mutter, daher nahm ihr Vater natürlich an, dass die Umzüge helfen würden und zog dank dieser ein wenig voreiligen Schlussfolgerung kurz nach ihrem Geburtstag, der am 15. Juni war, noch ein letztes Mal um – nach Ichihara.
Mikoto selbst veränderte sich mit jedem Umzug deutlich. Jede Klasse, in die sie ging, jede Stadt, die sie sah, veränderte sie nachhaltig, Stück für Stück. Ihr Vater beobachtete die Entwicklung und glaubte, dass sie nun langsam erwachsen werden würde.
Nun, sie veränderte sich wahrlich stark, aus dem schüchternen und niedlichen Mädchen wurde eine Teenagerin, die sich zwar an die meisten Regeln hielt, jedoch diese genauso schnell übertrat, wenn sie es für nötig erachtete. Ihr Kleidungsstiel wandelte sich, wurde dunkler und aus dem eher schüchternen Mädchen wurde ein zurückgezogener, aber doch recht offener Mensch, ein starker Kontrast. Kurz gesagt: Sie war freundlich und aufgeschlossen, aber sie suchte nie den Kontakt zu anderen Menschen und zog es meist vor, die Pausen alleine zu verbringen. Außerdem entwickelte sie ein großes Interesse am Kampfsport, vornehmlich am Kendo. Sie besorgte sich sogar ein stumpfen Zierschwert, dass sie in ihrem Zimmer an die Wand hing. Ein seltsames Ding, dass ihr Vater zuerst einmal gar nicht für ein Schwert hielt, als er es das erste Mal sah. Und dort, wo vorher der Mainstream-Pop dudelte, grölten sich jetzt diverse japanische Rockbands die Seele aus dem Leib.
Das sie sich gleichzeitig ein klein wenig von ihrem Vater distanzierte, wurde als normales pubertäres Verhalten eingestuft. Teenagerinnen erzählten nun einmal ihren Eltern nicht mehr alles.
Aber eigentlich hatte sie nur gelernt, nicht mehr über alles zu reden. Sie war eine schreckliche Lügnerin, man konnte sogar so weit gehen und behaupten, dass sie nicht lügen konnte, da man sie sofort durchschauen würde. Dementsprechend versuchte sie es gar nicht, sondern suchte ihr Heil in der Flucht oder in einem Themenwechsel, wenn sie zu einer Lüge gezwungen wurde.
Und sie wechselte des öfteren die Themen...
Vor allem, wenn es um die Besuche ihrer Mutter ging oder die Tatsache, dass die Mutter nicht mehr der einzige Geist war, der ihre Hilfe ersuchte.
Es war der eine einzelne Punkt, den weder Polizei, noch Familie oder Freunde und erst recht nicht ihre Psychiater erkannten... Mikoto sah keine Halluzinationen, sie bildete sich nichts ein. Ihre Augen nahmen lediglich war, was andere nicht sahen.
Mikoto war eine sogenannte Senken-Sha – eine Geisterseherin. Und daran würde sich niemals etwas ändern.
„Ruhe, bitte! Seid mal alle ruhig! Ich weiß, es ist eure Pause, aber ich habe euch etwas mitzuteilen!“
Die blonde Lehrerin hatte starke Probleme die Klasse ruhig zu bekommen, kein Wunder, hatte doch gerade deren Mittagspause begonnen und die Schüler und Schülerinnen wollten eigentlich nichts mehr, als in Ruhe ihre Pausenbrote zu genießen. Einige waren bereits an der Tür gewesen, auf dem Weg zur Cafeteria oder zum Bäcker, bevor die besten Gerichte und Brötchen mal
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