Die Geisterseherin (German Edition)
seinen Arbeitsplatz nur einmal für ein paar Minuten verlassen, um Wasser zu lassen... zu kurz, um nach Hause zu fahren und seine Frau zu ermorden. Mikoto war definitiv alleine mit ihrer Mutter Oyuki gewesen.
„Ich wollte raus gehen, aber Mama gab mir zu verstehen, dass ich im Zimmer bleiben sollte und sie sang die ganze Zeit.“
„Wie gab sie es dir dann zu verstehen?“, hakte der Polizist bei der doch sich widersprechenden Aussage noch einmal nach.
„Mit der Hand. Sie hat gesungen und mit der Hand angedeutet, dass ich in mein Zimmer bleiben soll... dabei hatte ich doch Hunger und wollte frühstücken...“
Auch dies notierte sich der Polizist.
„Und dann hast du gewartet?“
Erneut nickte das Mädchen und sprach dann: „Aber nicht lange, ich musste doch auch aufs Klo...“
Die Toiletten in dem Haus, in dem die Familie damals wohnte, waren im Flur, um sie zu erreichen, musste man durch die Stube, den Ort, an dem man Oyuki Sugisaki gefunden hatte.
Mikoto musste sie also auf dem Weg zum Klo gefunden haben. „Was ist dann passiert, Mikoto?“
„Mama sang immer noch, sie sagte kein Wort... und als ich auf dem Klo saß hat sie plötzlich aufgehört zu singen... und dann... und dann...“
Mikoto fing an zu weinen und der Polizist beendete sein Verhör. In den Bericht schrieb er, dass das Mädchen unter Schock stand, vermutlich hatte sie in der Nacht die Mutter bereits tot aufgefunden und sich dann eingeredet, dass sie noch leben würde. Mädchen hingen ja ganz besonders an ihren Müttern. Ihre ganze Geschichte ging bei ihnen einfach als „Schockzustand“ durch.
Keiner der Polizisten ahnte, dass das Mädchen Mikoto tatsächlich nur wiedergab, was sie erlebt hatte, sie war nun einmal ein aufrichtiges Mädchen, ehrenhaft erzogen. Sie log niemals Leute an, auch vier Jahre später sollte diese Eigenschaft ein unverkennbarer Teil von ihr sein.
Kurz nach dem Tod von Mikoto's Mutter zog der Vater innerhalb von Wakkanai um, laut eigener Aussage, da er es nicht ertrug in der Wohnung zu leben, in der seine Frau starb. Mikoto zählte diesen Umzug später nicht mehr zu den restlichen Umzügen, weil sie praktisch gesehen nur eine Straße weitergezogen waren.
Ihr Vater, Yujiro Sugisaki war ein guter Vater, auch die Polizisten bekamen damals diesen Eindruck. Er kümmerte sich sehr um seine Tochter, sorgte dafür, dass er früher nach Hause kam und arbeitete immer seltener über Nacht an seinen Forschungen. Er ging zu Klassensprechen, Schulaufführungen und ähnlichem, bemühte sich wirklich ernsthaft all die Dinge zu übernehmen, die seine Frau eigentlich getan hatte. Und natürlich entging ihm nichts, was seine Tochter anging.
„Was hast du, Mikoto?“ Diese Frage stellte er ihr eines Morgens, nur ein viertel Jahr nach dem Tod der Mutter, als Mikoto aus ihrem Zimmer kam.
„Mama war hier...“
Und hier, mit diesem einen kleinen Satz, begann Mikoto's Reise quer durch Japan, die vielen Umzüge von einer Stadt in die nächste. „Yujiro... als Freund frage ich dich...“, begann einmal ein Kollege von ihm ein Gespräch, „...hältst du es wirklich für das Beste, wenn du Mikoto so oft die Umgebung wechseln lässt?“
Yujiro konnte schon gar nicht mehr mitzählen, wie oft man ihm diese Frage gestellt hatte.
„Sie braucht eine andere Umgebung, hier erinnert sie nur alles an ihre Mutter... sie fehlt ihr so sehr, dass sie schon Halluzinationen hat! Stell dir vor, sie sagte sogar, dass ihre Mutter an ihrem Bett gestanden hätte...!“
Und Yujiro's Antwort war stets dieselbe gewesen.
„Hmm... vielleicht solltest du sie zu einem Psychiater schicken. Er kann ihr bestimmt helfen... warte, ich gebe dir die Nummer von einem guten Psychiater. Er hat einen ausgezeichneten Ruf und außerdem ist er ein Freund von mir und schuldet mir noch einen Gefallen. Er kann dir und deiner Tochter sicherlich helfen.“
Dieser Vorschlag kam zwischen dem zweiten und dritten Umzug, als Mikoto erst einige Wochen in der Stadt Takikawa wohnte und Yujiro, als guter Vater, griff natürlich nach diesem Strohhalm, wenn auch mit Zögern. Eine Woche später saß Mikoto zum ersten Mal bei einem „Seelenklempner“, wie sie die Psychiater später gerne mal nennen sollte.
„Vermisst du deine Mutter?“
Natürlich war dies die erste Frage von jedem der vielen Psychiater gewesen. Doch Mikoto schüttelte stets den Kopf.
„Mama kommt mich immer wieder besuchen und singt mir etwas vor.“
„So...? Wann war sie denn das letzte Mal da?“
„Vor dem letzten
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