Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
es ist alles ganz still. Die Briefbögen von Karl May liegen vor ihm auf dem Tisch, unordentlich verteilt die vier eng beschriebenen Bögen. Da! Auf einer der Seiten hat sich ein Kaffeefleck breit gemacht, die Tinte ist ausgelaufen, Buchstaben sind verschmiert. Mist! Wie konnte das passieren? Mechanisch rückt Fehsenfeld die leere Tasse ein Stück weg. Plötzlich hört er vom Vorraum her das Geräusch aufs Neue, es ist ein Kratzen, ein Jaulen und ein wütendes Knurren.
Sirta!? Was ist los? Wo bist du? Komm her! Komm!
Doch das Tier kommt nicht. Nur noch weiter knurrt und jault die Hündin. Fehsenfeld muss aufstehen und in den Vorraum gehen. Da sieht er seine Bracke in einer Ecke hocken, mit den Vorderpfoten eine große Ratte haltend, die, nicht etwa tot, sondern höchst lebendig, sich nach Kräften wehrt, zu beißen und sich zu befreien versucht. Fehsenfeld holt seinen Jagdstock und macht der Schlacht ein Ende. Er spießt die Ratte auf den Stock, hebt sie hoch und wirft sie hinaus auf den Hof. Die Hündin hetzt hinterher. Sie nimmt die tote Ratte auf, schüttelt sie, beißt der Wehrlosen post mortem das Genick und das Rückgrat durch, bringt sie zu ihrem Herrn zurück, legt sie, die nun weich und zerbissen wie eine pelzige Puppe, schließlich vor seinen Füßen ab. Setzt sich auf die Hinterläufe, blickt mit ihren Bernsteinaugen erwartungsvoll bettelnd zu Fehsenfeld auf. Der liebelt das Tier ab, rückt noch ein Stücklein von den Hirschresten heraus, sagt: Nun komm, ich hab zu arbeiten.
Er geht zurück in die Stube, setzt sich an den Tisch, wartet, bis die Hündin sich darunter verkrochen hat, stopft sich langsam und mit Bedacht eine Pfeife. Und wie zu sich selbst, aber doch ein bisschen auch zu seiner Hündin, spricht er: Das ist nun schon die zweite Ratte in drei Tagen. Die Herrschaften haben sich bei uns einquartiert und hausen mit einer Selbstverständlichkeit hier heroben, dass man nachdenklich werden könnte. Wir werden ein paar Fallen aufstellen müssen. Oder? Was meinst du, Sirta? Siehst du, das hat man nun von seiner Gutmütigkeit. Und er denkt daran, wie er nach dem ersten Rattenfund der Hündin eine weitere, die gerade noch entweichen konnte, nicht verfolgt hat, auch keine Falle aufstellte, sondern leichtfertig dachte, dass es sich erledigt habe.
Fehsenfeld beendet das Pfeifenstopfen, sucht nach den Zündhölzchen, findet sie nach langem Herumwühlen, zündet die Pfeife an, pafft und zieht, zieht und pafft, sitzt in die Qualmwolke gehüllt und versucht die Gedanken herbeizuholen, mit denen er vor ein paar Minuten seine Erinnerungen beendet hat …
Wie war das noch?
Er hatte den May nebst Emma zu sich nach Freiburg eingeladen. Auf Vorschlag von Paula, seiner Frau. Ja, so war das. Das alles ist jetzt fast fünfeinhalb Jahre her. Noch vor Mays erster großer Orientreise ist das gewesen. Ja, im Sommer 98. Und nachdem er ihn in Gundelfingen in der Buchhandlung Pforzheim ertappt hatte, wie er die Verlagsauslieferungen kontrollieren wollte. Fünf Tage haben die Mays dann bei ihm wie die Sommergäste gewohnt. Doch dieser Besuch ist am Ende unerfreulich ausgeklungen, es gab Missstimmungen.
Wie ist es dazu gekommen? Wie hat es sich zugetragen?
Fehsenfeld versucht sich zu konzentrieren, er redet sich ein, dazu müsse er sich zurücklehnen und die Beine ausstrecken. Er hat kürzlich gelesen, dass die Patienten jenes Siegmund Freud, der jetzt in aller Munde ist, sich besonders gut erinnern könnten, wenn sie sich auf einem Sofa ausstreckten. Nein, auf sein altes Bauernsofa will er sich jetzt nicht legen, es muss genügen, wenn er sich in dem breiten Arbeitssessel zurücklehnt und die Beine lang macht. Also tut er das. Pafft noch zwei, drei Wölkchen gegen die niedrige Holzdecke, und siehe, er beginnt sich tatsächlich zu erinnern …
Die Mays sind am nächsten Tag in St. Märgen, das etwas außerhalb an der Straße nach St. Peter, nur ein paar Kilometer östlich von Freiburg liegt, in St. Märgen, Glottertalstraße 38, angekommen. Hier befindet sich seine neue Sommervilla. Er hat May und Emma extra an diesen Ort bestellt, damit sie die Neuerwerbung als seine ersten offiziellen Gäste besichtigen und hier auch gleich Quartier nehmen können, sie sozusagen mit ihrer Anwesenheit einweihen, wie Paula gesagt hat. Fehsenfeld besitzt die Villa seit reichlich einem Jahr und er ist auf sie besonders stolz. In der ersten Zeit ist er, wenn er hier draußen war, früh aufgestanden, hat das Grundstück umrundet, ist ein
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