Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Kipling „Im Dschungel“ aus der Reihe „Die Welt der Fahrten und Abenteuer“ sowie ein Buch von einer gewissen Gertrud Prellwitz „Oedipus oder das Rätsel des Lebens – Tragödie in fünf Akten“. May bleibt, die Hände auf dem Rücken, vor diesen Ausgaben stirnrunzelnd stehen, schüttelt den Kopf. Liebster Freund, sagt er, wo ist denn mein „Satan“ und wo der dritte Band vom „Mahdi“? Verzeihen Sie mir, sagt Fehsenfeld und tritt neben May vor die Bücherwand, ich hab noch nicht geschafft, die alle hier herüberzubringen. Sie liegen zum Teil noch in meiner Wohnung in Freiburg, in den Verlagsräumen und bei Krais. Wird in den nächsten Tagen erledigt. Versprochen.
Aber der Kipling ist ja auch ganz neu, nicht wahr? Und der steht immerhin hier. Und was ich bemängeln muss, mein Lieber, er steht hier im bekannten grüngoldenen Gewand der Karl-May-Bände. Wir hatten doch vereinbart …
Ja, ja, nicht böse sein, die Eva habe hier draußen darin lesen wollen. Deshalb. Außerdem, es ist nur ein Probedruck, Felix wollte sehen, wie der Kipling auf alte und bekannte Weise wirkt, aber Sie haben recht, Verehrtester, wir werden das Cover noch verändern und deutlich von Ihren Werken abgrenzen. Lassen Sie mir nur ein paar Monate Zeit, bitte …
Kommen Sie, verehrter Freund, schlägt Fehsenfeld, seine Erklärung abbrechend, vor, wir sollten uns dort drüben in die Sesselgruppe setzen und erst einmal in Ruhe eine von meinen guten Virginias rauchen.
Ja, gut,
meintsweechen
, sagt May, da lässt sich’s besser reden, ich wollte Ihnen sowieso noch von ein paar neuen Gedanken erzählen, die mich in den letzten Monaten heimgesucht haben. Die ungleichen Freunde, der Verleger und sein Bestsellerautor, zünden sich die Zigarren an, schmauchen mit Behagen ein paar Züge. May dann nach einer kleinen Weile, seine Zigarre aus dem Mund nehmend und sie versonnen betrachtend, setzt seine Rede fort: Teilweise schrieb ich Ihnen ja schon davon – Karl May beginne, sagte ich in einem solchen Brief, mit seinen eigentlichen Absichten herauszurücken. Erinnern Sie sich? Es handele sich dabei, schrieb ich, um eine wohlvorbereitete, großartige Bewegung auf religiös-ethisch-sozialem Gebiete, und man werde dann auch endlich einsehen, dass dieser Schriftsteller aus Sachsen keine Indianergeschichten, sondern Predigten an die Völker schreibe … Ein erstes Projekt, dessen begonnenes Manuskript in seinem Koffer liege – May reckt sich, saugt, da sie auszugehen droht, heftig an der Zigarre – dieses Buch solle „Am Jenseits“ heißen. Ein zweites Projekt, etwas gänzlich anderes, beschäftige ihn indes noch mehr. Ein Band mit Gedichten nämlich, den er „Himmelsgedanken“ nennen wolle. Passen Sie nur auf, lieber verehrter Freund, fährt May fort, „Am Jenseits“ und alle folgenden Romane, die in Umrissen in seinem Kopfe bereits konzipiert seien, würden zu großen Teilen als Schlüsselromane verfasst. In ihnen träten Figuren aus seinem Leben, Freunde, Begleiter, aber auch seine Gegner, in orientalischen und fremdartigen Gewändern auf. Aber er solle gewiss sein, man werde sie erkennen, an Stimme, am Gestus, an der Sprache und den Handlungen. Auch für ihn, seinen Verleger, habe er vorsorglich ein solches Gewand bereitgelegt. Es liege fertig da. Er solle nur gespannt auf die Fortsetzung des „Silberlöwen“ warten. Da werde er sehen, in welchem Habitus ein Friedrich Ernst Fehsenfeld auftauche und für die Ewigkeit präpariert werde. Und gerade in diesem Buch, im „Am Jenseits“, fände der Leser plötzlich eine geradezu esoterische, spiritistische Atmosphäre vor, eine Mischung aus Jakob Böhme, Oetinger, Louis Claude de Saint-Martin, der jüdischen Kabbala und anderen Ingredienzien der Theosophie und des Spiritismus. Wie ich Ihnen sagte, verehrter Freund, ein gänzlich neuer May – man wird staunen.
Was sagen Sie dazu?
Fehsenfeld, mit ernstem Gesicht, legt seine Zigarre vorsichtig in den kristallenen Ascher. Er lächelt verlegen. Mal sehen, ob wir das Gespräch zu einem Abschluss bringen, ehe die Asche abfällt. Keine Sanduhr – eine Ascheuhr! Ha, ha.
Einen Augenblick herrscht Schweigen. Die beiden Männer starren auf die weiße Zigarrenspitze. Leise steigt ein dünner Rauchfaden auf, unberührt liegt die rehbraune Zigarrenspindel, indes langsam und stetig, sacht, fast unmerklich frisst sich das Weiße der Asche in den rehbraunen Körper hinein, und es erscheint wie ein Gleichnis für das fortschreitende Mahlen, das Fressen
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