Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
kamen hinzu, sie freuten sich, ihn wiederzusehen, aber sie schauten den Bruder so sonderbar an, so scheu – oh, wie verlassen, wie gottverlassen er sich damals gefühlt hatte. Der verlorene Sohn, ein Ausgestoßener war heimgekehrt …
Ja, er, Karl May, weiß, was Einsamkeit und was Ausgrenzung bedeutet, und er kann sich vorstellen, welche Leiden dieser Junge, sein junger Freund Schneider, ausstehen muss.
Er erhob sich, trat an den Maler heran und strich ihm über den Scheitel. Schneider zuckte zusammen, aber er ließ es geschehen, er saß ganz starr und stierte auf einen Blumentopf in der Verandaecke. Lassen Sie mich, ich bitte Sie, sagte May mit tiefer, warmer Stimme, lassen Sie mich Ihr Halt gebender und Sie stärkender „Chodem“ sein, vielleicht sollten wir das Gemälde, vorn im Empfangssalon, nicht „Die Offenbarung“ nennen, sondern in „Chodem“ umbenennen, sozusagen als verschwörerische, nur uns zweien bekannte Bezeichnung für die Funktion dieser Figur. Ja, Ihr „Chodem“ will ich sein. Seien Sie einverstanden, lieber Freund! Bitte. Für mich sind Sie nach Ihrem Bekenntnis nicht etwa mit einem Makel behaftet, nein, Sie sind für mich nur noch wertvoller geworden. Aber Schneider rührte sich auch nach diesen Worten nicht, unverwandt starrte er auf den Blumentopf, in dessen Form und Farbe, auf dessen Oberfläche er plötzlich Hochinteressantes zu entdecken schien, Einzelheiten, Reliefs, Symbole, Farben, die der Topf in diesem Augenblick nur ihm offenbarte, in einer Art geheimer Botschaft, und er dachte, während Mays Stimme wie von Ferne an sein Ohr drang, ja, sein Anderssein, seine Homosexualität wäre ein gravierendes Zeichen für sein soziales Außenseiterdasein, für seine ungewöhnliche künstlerische Existenz, für seine nietzscheanische Einsamkeit, ein Zeichen, jawohl, ein Zeichen für seine Kreativität, für seine einmalige Malkunst, die in der gegenwärtigen Malerei Ihresgleichen sucht.
Hören Sie, wiederholte May, haben Sie gehört? Was es auch sein möge, ich stehe zu Ihrer Verfügung, im Materiellen wie im Ideellen. Sie haben in mir ab jetzt einen Mentor.
Hier! Schlagen Sie ein! Und May hielt dem Maler die Hand hin.
Was? Wie? Schneider erwachte, wandte dem Alten den Kopf zu, erhob sich. Sie standen sich gegenüber, die zwei ungleichen Männer, die Geistesbrüder, die sie sein wollten, und blickten sich lange und tief in die Augen. Dann lächelte Schneider. Danke, verehrter Meister, danke. Aber ich muss dies alles allein auskämpfen und austragen. Ich stehe außerhalb des Normalen. Ich kann meine Naturanlage weder unterdrücken noch bekämpfen, und sie ist keine Sünde oder etwas Abartiges. Ich werde meinen Weg gehen, wie ich ihn bisher gegangen bin, einsam und für niemanden. Auch mit niemandem, ich muss das allein tun. Ob Sie das verstehen können oder nicht, ist egal. Ob es ein anderer, ob es die Welt verstehen kann, ich weiß es nicht. Keiner wird mir da helfen können, außer ich mir selbst. Aber dennoch danke ich Ihnen für Ihre Liebe und für Ihr Mitgefühl, ich nehme es wie einen Schatz in mein Inneres auf und werde es dort bewahren. Dank. Dank. Dank.
Und plötzlich, ohne es vorher gewollt oder beabsichtigt zu haben, umschlang er den Alten und küsste ihn auf beide Wangen und auf den Mund. May ließ es geschehen und küsste seinerseits den Maler auf die Stirn, nahm seine Hände und hielt sie in der Hand, hielt sie lange, so lange, dass Klara, die wieder hereingekommen war und die eigentlich nur hatte fragen wollen, ob die Männer noch etwas wünschten, die beiden in dieser Stellung antraf.
Klara, sie verharrte neben der Tür, hielt ein Tablett und ein Wischtuch in der Hand, und in ihrer Brust gab es einen leisen Stich, doch nur kurz, dann räusperte sie sich. Doch die beiden Männer ließen nicht voneinander, sie standen still, sich an den Händen haltend, und in Karls tief liegenden Augen glitzerte eine winzige Träne …
9
Wie ausgestorben, wie tot, wie verlassen liegt das nächtliche Haus. Leise weht der Atem der Nacht. Ein und aus und aus und ein. Die menschliche Tätigkeit, sie scheint erschlafft, sie ruht im Wechsel von Licht und Dunkelheit, von lautem Tag und stiller Nacht. Und nur im ersten Stock, im Arbeitszimmer der Villa schimmert durch die zugezogene Gardine ein sanftes Licht auf die Straße. Es ist eine Stunde nach Mitternacht.
Im Haus herrscht Stille. Ab und zu knackt das trockene Holz von Täfelung und Dielen, auch die vielen Ausstellungsstücke an den
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