Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Wänden und auf den Regalen geben leise Töne von sich, da raschelt es, knistert es, da fällt etwas herunter, wenn es eine einsame und besonders mutige Maus geschafft hat, bis zu einem solchen Stück emporzuklettern; die Wanduhren ticken, es gibt drei im Haus. Sie ticken nicht im gleichen Takt, auch ihr Schlagwerk verkündet die vollen Stunden mit geringem Versatz.
Wir schleichen auf Zehenspitzen in den ersten Stock. Aus dem Schlafzimmer und von oben hört man gleichmäßige Schlaflaute. Auf den Fluren und den Treppen ist es stockdunkel. Man muss aufpassen, nirgends anzustoßen. Nur durch die Ritzen der Klappe in der Tür des Arbeitszimmers und unter seiner Tür hervor schimmert Licht. Die Klappe hat der Hausherr anbringen lassen, damit ihm durch diese wie bei einer Durchreiche in einer Gastwirtschaft das Abendbrot und ein Nachtmahl bereitgestellt werden kann, wenn er sich zum nächtlichen Arbeiten zurückzieht. Denn durch nichts und durch niemanden will er beim Schreiben und Lesen, beim Nachdenken gestört werden. Jetzt ist sie geschlossen, diese Klappe, denn er wird nichts mehr zu sich nehmen, bis er seine heutige Arbeit beendet hat und er sich hinüber in das eheliche Schlafgemach zur Ruhe begibt. Doch das wird noch mindestens zwei bis drei Stunden dauern. Es sind noch wichtige Textabschnitte zu entwerfen, andere zu Ende zu bringen.
Karl May sitzt an seinem Schreibtisch, die Tischlampe beleuchtet das vor ihm liegende Blatt Papier, die der Lichtseite abgewandte Gesichtshälfte liegt im Schatten, durch die Mitte, von der gebuckelten Stirn bis zum Kinnbärtchen, zieht sich die Schattenkante, scharf und markant wie eine Grenzlinie, und nur dort, wo das Licht die sehr weiße Haut beleuchtet, sieht man die kleinen seidigen Fältchen. Sein linkes Auge, von der Lampe angestrahlt und wie das andere konzentriert auf das Blatt gerichtet, schimmert hellblau und durchsichtig wie eine Glasmurmel. May stützt, als sei er erschöpft und müde, mit der Rechten seinen Kopf, das weiße Haar ist ihm in die Stirn gefallen und bedeckt zwei Finger der stützenden Hand. Übergroß prangt der prächtige Siegelring am Ringfinger. Der Schriftsteller May stöhnt leise. Er atmet hörbar ein und aus, ein wenig rasselt es sogar. Die Lunge ist immer noch nicht in Ordnung. Er weiß, er sollte sich schonen, er sollte mit dem Rauchen aufhören, aber er kann weder das eine noch das andere tun …
Nur wenige Sätze hat er, seit er sich nach dem gemeinsamen Abendessen zurückgezogen, aufs Papier gebracht, nun hat er die Feder endgültig abgesetzt, er seufzt und bedenkt das Geschriebene. Ach, es ist verrucht, er kommt heute einfach nicht in die richtige Stimmung. Dabei drängt ihn das Ganze wie nichts. Der „Friede“ muss endlich fertig werden. Unbedingt. Auch anderes ist inzwischen im Kopf herangewachsen, die Fortsetzung des „Silberlöwen“ zum Beispiel. Schon zwei Mal hat er dem Fehsenfeld die Abgabe des China-Buches versprochen. Er muss den Roman beenden und er wird ihn beenden. Aber wann? Durch die Krankheit vor Weihnachten hat es ihn mächtig zurückgeworfen. Was er sich vorgenommen, hat er nicht geschafft. Aber die alte Kreativität lässt sich nicht herbeizwingen. Zu vieles ist in den letzten Wochen auf ihn eingestürmt. Da gibt es rund um die vermaledeite Pauline keine Ruhe, Klara müht sich ab, ein paar Zeugen für den Prozess gegen die Münchmeyer-Kloake zusammenzubringen, um endlich zu Ende damit zu kommen, sie muss sich streiten und erniedrigen lassen wie jüngst von dem Herrn Münchmeyer-Schwiegersohn, diesem Doktor Schiller aus Döbeln, ja, sie muss sich sogar hinauswerfen lassen, sie ist nach Ilmenau, nach Reichenberg und wer weiß wohin gefahren, erinnert sich May, nur um ein paar Krümelchen zusammenzukehren, die uns nützen könnten, und am Ende stellt dieser schurkische Gerlach beim Amtsgericht in Dresden noch Strafanzeige gegen seine Klara, weil sie bei ihren Recherchen die Pauline beleidigt haben soll – ach, es ist ein Kreuz! Ein Jammertal.
Dann bedränge ihn auch noch dieser Vilímek aus Prag immer wieder und wieder, jede Woche käme ein neuer Brief, denkt May weiter, und nur, weil er sich dieses Hynek nicht erwehren könne und der ihm Konkurrenz mache, denn dieser kleine tschechische Halunke glaube womöglich, nur weil er ihm nicht geantwortet habe, er, May, habe keine Einwände gegen eine tschechische Übersetzung von „Deutsche Herzen, deutsche Helden“ und dann wolle er, wie er ihm jetzt mitgeteilt habe,
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