Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
ich hatte mir fest vorgenommen, dem Freund Klinger an diesem Tag zu sagen, dass ich homosexuell sei. Doch ich brachte es zunächst nicht fertig, mein Mund war wie mit einem Vorhängeschloss fest verschlossen. Max fragte mich ein paar Mal, was mit mir los wäre. Ich gab ausweichende Antworten. Als wir dann nach dem Besuch der Kneipe auf dem Weg zu Bahn waren, ging es folgendermaßen:
Ich: „Du, ich glaube, ich muss dir was sagen.“
Max: „Was denn?“
Ich: „Warte mal, bis das Ehepaar (die gerade hinter uns liefen) vorbeigegangen ist. Muss nicht jeder hören.“ – Als die dann vorbeiwaren:
Ich: „Du bist der Erste überhaupt, dem ich das jetzt sage. Und das mache ich, weil ich dir vollständig vertraue. Aber bitte sag es noch niemandem.“
Max: „Natürlich, Sascha, ist doch Ehrensache. Ich schweige wie ein Künstlergrab.“
Ich: „Ich bin nicht normal, Max.“
Max: „ So? Hast du Krampfanfälle, ist mir noch gar nicht aufgefallen.“
Ich: „ Nein, es ist etwas anderes. Ich bin homosexuell!“
Max brummte irgendwas, sagte dann: „Na und?“
Ich zitterte am ganzen Körper. Es war die reine Angst. Ich wiederholte, was ich gesagt hatte, und blieb stehen. Er hat mich zuerst lächelnd angeschaut und geschwiegen – mir kam es wie ewig vor, aber es waren sicher nur zwei bis drei Sekunden – und er hat dann einfach mit den Achseln gezuckt und noch einmal sein „Na und?“ gesagt. Er hätte kein Problem damit. Ich wäre ein überragender Maler, das wäre für ihn das Wichtige, ich würde es weit bringen, mit Fleiß und Zähigkeit und mit meinen glorreichen Ideen – aber mit wem ich abends ins Bett stiege, wäre ihm völlig egal. Ich aber wäre beinahe zusammengebrochen. Ich zitterte am ganzen Leib. Wir, Max und ich, wir haben dann noch auf dem Weg nach Hause lang und breit drüber geredet und unsere Beziehung ist seitdem stetig besser geworden. Nach diesem Tag ging es mir so gut wie nie. Innerlich war ich erleichtert und froh, hab wieder eine positive Zukunft für mich gesehen. Als ich Lilly zu Hause davon sprach, lachte sie und wir haben eine Flasche Krimsekt getrunken.
Die allererste „Beichte“ verlief eigentlich noch einfacher und leichter: Es war kurz nach unserem Umzug nach Dresden im Jahre 1884, als der Vater gestorben war und ich an die Kreuzschule in Blasewitz gekommen war. Es war heiß, es war Sommer, wir hatten schulfrei, ich war früher nach Hause gekommen. Ich stand gerade im Bad, hatte die Füße in einer Emailleschüssel und wusch mich und ich hatte irgendwie das Gefühl, jetzt meiner Schwester Lilly, die in ihrem Zimmer eine Näharbeit machte, die Wahrheit sagen zu müssen. Also hab ich mich fertig gewaschen, mich angezogen und bin zu ihr ins Zimmer. Ich hab sie gefragt, ob sie ein bisschen Zeit für mich hätte. Auch ihr habe ich, wie später dem Max, gesagt, dass sie das, was ich ihr jetzt sagen wolle, doch für sich behalten solle. Und dann hab ich Lilly einfach gesagt, dass ich nur Jungens und Männer liebe. Ganz direkt in ihr breites Gesicht. Ich sehe sie noch vor mir, sie war eben 14 Jahre alt geworden, trug lange braune Zöpfe und eine weiße Schürze über ihrem dunkelblauen Kleid. Sie hat zuerst gedacht, dass ich sie veralbern wolle, und tüchtig gelacht. Aber dann, als ich dabei blieb und ein ernstes Gesicht machte, hat sie es geglaubt und ganz gut aufgenommen. Wir haben dann auch noch, bis die Mutter kam, drüber geredet, ganz ernsthaft und tiefsinnig, wie wir Geschwister sonst niemals miteinander gesprochen hatten, und alles war wirklich prima und zufriedenstellend. Freilich: Manchmal zieht sie mich auch heute noch ein bisschen damit auf, aber das ist in Ordnung. Man soll sich ja nicht so ernst nehmen und ich mache auch selber ganz gerne Witze über mich …
Schneider machte eine Pause, er nahm seinen Blick von der Decke und schaute jetzt seinem Freund und Gastgeber Karl May voll ins Gesicht. Da der Maler aber während seiner Beichte unentwegt zur Verandadecke gestarrt hatte, war ihm entgangen, wie May mit seiner Frau Blicke getauscht hatte. Klara hatte erschrockene Augen gemacht, sogar ein wenig Panik glomm in ihnen, ihr Blick flackerte, während Karl äußerlich ruhig mit zusammengekniffenen Augen dagesessen hatte. Aus schmalen Augenschlitzen, mit seinem Indianerblick, wie er sofort dachte, einem Blick, den er in Old Surehand und in einigen anderen seiner Romane oft beschrieben hatte und den er jetzt wieder einmal erprobte, mit solchem Blick hatte er seine Frau
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