Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
den Blättern der Bäume da draußen, mit den Blumen im Vorgarten, mit den Steinen am Wege, mit der Erde, die alles bedeckt.
Großes Glück, das befreiende Gefühl, das der Mensch empfindet, wenn er schöpferisch gewesen, eine unendliche umspannende Weite erfüllt jetzt seine Brust, jetzt nach dem Niederschreiben dieser Gedanken und nach der Angst, die er im Salon ausgestanden.
Er tritt vom Fenster weg, geht an das kleine Tischchen, wo Klara das Nachtmahl abgestellt hat, nimmt das erste Wurstbrot, beißt hinein, schlingt, nimmt das zweite, kaut, schluckt, gießt sich den Kaffee, der inzwischen lau geworden, ein, trinkt, rülpst ein wenig, freut sich der Reaktion seines Magens. Wohlig streicht er über seinen Bauch.
Dann, mit schnellen Schritten, geht er zum Schreibtisch, setzt sich, nimmt den Federhalter, schreibt, schreibt, bis am Horizont der Morgen graut …
10
Die Zeit ist wie eine Walze, sie mahlt Monate und Jahre wie Stunden und Tage zu Staub.
Und es erscheint uns alles immer neu, wenn es vor unseren Augen steht. Wir glauben, es sei nur das Alte, Bekannte im neuen Gewand, wir glauben es zu erkennen und erkennen es nicht, wir haben uns selber nicht auf der Rechnung, denn wir fühlen die Zeit, die vergangen, in unserem Geiste nicht – es ist das Märchen von ewiger Jugend, das in uns spukt. Und doch könnten wir sehen, wie um uns her der ewige Reigen webt, wie Wachsen und Werden, Geburt und Jugend mit Vergehen, Altern und Tod im dauernden Tanze sich dreht.
In unserer Erzählung müssen wir nun vorausblättern.
Wir begeben uns ins Jahr 1906: Zwei Jahre sind vergangen, zwei Jahre voller Glück für Karl May, zwei Jahre aber auch voller Leid, voller Erfolge und Niederlagen, voller Siege für die Feinde, zwei Jahre voller Arbeit, zwei Jahre vollgepackt mit allem, was ein Leben ausmacht …
Noch ist jetzt am Ende des Monats Juni hoher Frühling im Elbtal. Die Natur zeigt sich in üppigster Pracht. Aber man weiß, im Werden verbirgt sich zugleich das Vergehen, und was wild und bunt und wie im Rausch begann, was sich kringelte und farbig zum Lichte wuchs, das wird mit jeder Stunde alt und stirbt von unten langsam ab, die meisten Frühlingsblumen sind jetzt schon dahin, die Baumblüte hat sich zu den Äpfeln hin verzogen und steht vor ihrem Ende, nur das gewöhnliche Gras auf den Wiesen und am Wegesrand, die Schosse an Bäumen und Sträuchern treiben und wachsen, die Distel, die Melde, das Klebkraut erhebt sein grünbekränztes Haupt, es ist, als ob die Euphorie, die Begeisterung vorbei, die Prinzen und Prinzessinnen verjagt sind und das gemeine üppig grüne Volk nun die Macht übernommen hat …
Karl May steht im Obergeschoss seiner Villa, lehnt an der Brüstung des Balkons und schaut über die Straße auf seinen Garten hernieder. Eine unbestimmte Wehmut hat ihn ergriffen. Doch der vergehende Frühling ist es nicht allein, der ihn verstimmt, es ist auch ein Brief, den er, auf den Balkon hinausgetreten, noch immer in der Hand hält. Es ist ein Brief seines lieben Freundes Schneider, des Malers und nunmehrigen Professors für Aktmalerei an der Großherzoglichen Kunsthochschule in Weimar. Er hat ihn schon dreimal gelesen, diesen Brief, und noch immer brennt der Schmerz wie beim ersten Mal. Er wird ihn ein viertes Mal lesen, aber er weiß, dass ihm die Sätze wie kleine Messer das Herz ritzen. Sollte der einstig alte Schreckenstraum nun tatsächliche Wahrheit werden? Da steht so viel zwischen den Zeilen, dass man nicht anders als hellhörig werden muss. Oh, er hat es geahnt, in seinen Visionen geträumt, seine Front bröckelt, die Burschen laufen ihm von der Fahne. Zuerst der Fehsenfeld, natürlich, dieser Kerl werde nicht müde, den missionarischen Feldzug seines Autors zu unterlaufen. Fährt nach Weimar, dieser Haderlump, diniert mit seinem allerliebsten Sascha im „Erbprinzen“ und versucht ihn für sich zu gewinnen, versucht ihn auszuhorchen, entmutigt ihn, den sensiblen Geist, indem er von der anzustrebenden Einheit von Bildern und Text schwafelt, redet von schwachem Absatz der „Blauen Reihe“, führt es auf die angeblich zu hochkünstlerischen Zeichnungen Schneiders zurück, verschweigt natürlich, dass die ihm zuwider sind, diese Zeichnungen, dass er sich als Spießer, der er ist, abgestoßen fühlt, schwadroniert dagegen von „gemeinverständlichen“ Illustrationen, die man dringend brauche. Oh man weiß, was das bedeutet, er will seinen Michelangelo zur Aufgabe bringen, zum Hinschmeißen, und
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