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Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Funke
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würden zu Ladenhütern. Zu unverkäuflichen Mustern würde diese Buchreihe, zu Zeichen seines Irrweges. Ha, ha, ha – das Monster lacht laut und schrillend.
    May vor dem Bilde hält sich die Ohren zu.
    Hilf mir, so hilf, Chodem! keucht May, so hilf mir doch, weißer mächtiger Chodem.
    Doch das Bild bleibt stumm im Mondlicht, die weiße Gestalt regt sich nicht, stattdessen hört er die Stimme des Monsters: Eigentlich sei es schon jetzt aus mit ihm, aber, flüstert das Monster weiter und streckt die langen, schwarzbehaarten Arme nach ihm aus, aber es liebe den langsamen Tod seiner Opfer, so wie die Katze mit der Maus spiele, bis diese erschöpft und zu Tode verletzt ihren letzten Atemzug täten, so werde es auch ihm, dem berühmten Karl May, ergehen …
    May, mit einem Aufschrei, macht Licht. Mit dem Aufleuchten der elektrischen Lampen ist der Spuk verschwunden. Verwirrt schaut sich Karl May um, dann nach einer Zeit, in der er schwer atmet und kalten Schweiß fühlt, begreift er, er hat wieder eine seiner verfluchten Gesichte gehabt, wie sie ihn in letzter Zeit häufig anfallen, und er dann aber meistens nur Zwiesprache mit seinen Buchhelden hält, sich austauscht mit Winnetou, mit Halef, mit einem englischen Lord oder dem Amerikaner Waller oder den beiden Chinesen, Vater Fu und seinem Sohn Tsi, wie zuletzt, da er am „Und Friede auf Erden“ arbeitet.
    May, nach seiner grausamen Vision, diesem Anfall, fühlt sich schwach, ausgelaugt, aber er hat noch die Kraft, nach oben in sein Arbeitskabinett zu taumeln. Er weiß, er muss schreiben, er muss jetzt arbeiten, er fühlt, wie es ihn dazu treibt. Lächelnd sieht er die Wurstbrote, den Kaffee, das silberne Messer, den Löffel auf dem Tablett, das ihm Klara hingestellt hat. Er entledigt sich seines Jacketts, knöpft den Hemdkragen auf, löst die Halsbinde, setzt sich hinter den Schreibtisch, stützt wie immer den Kopf in die rechte Hand, besinnt sich kurz, schreibt:
    …Das, was ich sah, war nicht das Paradies, sondern die letztbeschriebene Szene vor dem eingestürzten Tore. Da standen sie, der Menschengeist, der Satan und die „Hen“. Einige niedrige Wesen bemühten sich, die Leiche der „Shen“ auf die Seite zu schleppen. Zwischen den Trümmern des Tores stürzten sie hervor, die Unglücklichen, die weder sahen noch hörten, sondern nur den einen Gedanken hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Sie quollen in eng zusammengedrängter Masse heraus, mit verzerrten Gesichtern, heulend und schreiend, sich stoßend, drängend und treibend. In ihrer blinden Angst bemerkten sie die drei am dunklen Felsen Stehenden nicht, denen sie den Verlust des Paradieses verdankten. Nur vorwärts, vorwärts strebten sie, obgleich infolge dieser fürchterlichen Panik viele in den Abgrund stürzten, der auf der anderen Seite gähnte. Da gab es Europäer, Amerikaner und Asiaten, weiße, schwarze, rote und gelbe Menschen, Kaukasier, Mongolen, Indianer, Neger und alle Arten von Mischlingen. Sie alle waren im Paradiese gewesen, und sie alle wurden nun aus demselben vertrieben, weil sie nicht den himmlischen „Shen“, sondern dem von der „Hen“ verführten Menschengeiste gehorcht hatten …
7
    May hebt den Kopf, presst die Luft befreit aus seinen Lungen. Während er schrieb, hat er flach und kaum atmend die Luft angehalten, um sich gewissermaßen in äußerster Anspannung zu halten. Er tut das manchmal, wenn er besonders Wichtiges schreibt, wenn er, wie er Klara und guten Freunden gesagt hat, mit seinem Gott in Verbindung steht. Keine Bewegung, außer der schreibenden Hand, soll ihn dabei stören, und die Luft, die ihm von Gott gesandt, muss in seinem Körper verbleiben, muss alles ins Blut abgeben, um mit dem Blut in seinen Kopf zu strömen, und erst dann, wenn diese geheime Botschaft zu menschlichem Wort geworden, kann er sich wieder bewegen, geruhigt ein- und ausatmen, und erschlaffen.
    Er steht auf, tritt ans Fenster, zieht die Gardine beiseite, öffnet die Fensterflügel weit. Der Strom der kühlen, erfrischenden Nachtluft dringt ins Zimmer, streichelt alles mit sanfter, kalter Hand, bewirkt Belebung und Verjüngung. May kann ihn spüren, diesen Atem der Nacht. Wie er leise bläst. Wie er die Lungen des Universums treibt. Ein und Aus und Aus und Ein. Und auf einmal ist es Überhöhung, narrt ihn sein Verstand, fühlt er sich eins mit allem um sich her, weiß er, dass er, ein kleines, ein winziges Teilchen, getrieben und umhergeblasen, sich vereinen kann mit allem, was ihn umgibt, mit

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