Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Funke
Vom Netzwerk:
einmal auch den Spiegel, dann plötzlich, wie er aufgetaucht war, ist er wieder verschwunden.
    Fehsenfeld nimmt sich eine Zigarette, er hat auch die alte, handgeschnitzte Pfeife, ein Erbstück seines Schwiegervaters, des Rechtsanwaltes Josephus Reinboldt, bei sich, im vergangenen Jahr ist der Alte hochbetagt gestorben, schade, er war trotz seines ewigen Misstrauens gegen den Schwiegersohn ein feiner Kerl und er mochte ihn. Nein, jetzt will er sich die Pfeife nicht stopfen, vielleicht taucht der Bock gleich wieder auf und dann ist er vom Pfeifenstopfen abgelenkt, verpasst den Bock – so schaut er unverwandt hinüber, wo der Bock erschienen und wieder verschwunden ist. Dem Jäger tränen die Augen, so starrt er. Steht dort unter der Lärche nicht sein alter Freund, ist das Helle nicht sein Spiegel? Er nimmt das Glas. Nein verdammt, es ist nur eine Dolde. Oder da? Blitzt da nicht das Gehörn? Ach, i wo, es ist nur eine Geißblattknospe, von einem hüpfenden kleinen Vogel bewegt. Fehsenfeld seufzt leise, macht einen Zug aus der Zigarette und begnügt sich mit Naturbeobachtungen, er nimmt den balzenden Birkhahn unters Glas, den stelzenden Brachvogel, die Haubenlerchen, die seitab auf einem sandigen Weg trippeln, den schwarzköpfigen Raubwürger, der keine zwanzig Meter entfernt auf einem Weidepfahl thront, zählt die Wildtauben, die eben eingeflogen sind, neckt den Kuckuck, indem er seinen Ruf nachahmt, lauscht auf das Hämmern des Schwarzspechtes, drüben in dem hohen Lindenbestand. Es sollte endlich regnen, sagt sich Fehsenfeld und schaut zum Himmel, gar zu trocken ist’s allhier, die Bauern werden sich genauso freuen wie alles Wild, wie auch er, der Jäger. Doch plötzlich zuckt er wie unter einem Schlag zusammen, denn keine achtzig Meter weit steht der Bock drüben vor der Dickung, steht in ganzer Größe, zeigt ihm die tiefe Brust, die breiten Flanken, äugt, hat die Lauscher aufgestellt, will Witterung nehmen, aber zum Glück, er hört und er sieht und er riecht den Jäger nicht.
    Endlich! sagt sich Fehsenfeld und ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchrieselt seine Brust. So hat er diesen Bock bisher nur ein einziges Mal vor sich gehabt. Das war im Spätherbst, als er drüben am anderen Ende der Waldung saß, und er hätte ihm damals beinahe die Kugel gegeben, wenn er nicht im letzten Moment entdeckt hätte, dass sein Freund, der alte Bock, die Stangen schon zur Hälfte abgeworfen hatte. Jetzt starrt er hinüber, so wie der Bock unbeweglich steht, einem Jagdstandbild gleich, wie auf einem Vertiko in Bronze oder Gips, oh, es ist sein alter Freund, denkt Fehsenfeld, er erkennt ihn, sicher fünfundzwanzig Kilo aufgebrochen, ein kräftiger, mächtiger Kerl, mit einem Gehörn, hoch, kräftig, gut geperlt, von dunklem Braun, mit weißen Spitzen, nicht zu eng stehend. Nur jammerschade, dass er grau, im Winterkleid, ohne ein bisschen Rot erscheint. Wäre er rot, leuchtete er vor dem Grün wie auf einem Gemälde, dann klopfte ihm, dem Jäger, das Herz noch mehr und er könnte nicht so ruhig das Fadenkreuz auf das Blatt richten, wie er es jetzt tut. Soll er oder soll er nicht? überlegt Fehsenfeld und legt die Fingerspitze an den metallkühlen Hahn des Drilling. Ach was, sagt er sich, er werde ja das Gehörn in seiner Jagdstube aufhängen und nicht die Decke. Trotzdem, er weiß, wenn der Kerl dann zu seinen Füßen liegt, wird er sich über das graue, struppige Fell ärgern. Auf der anderen Seite: Wie viele Abende, Nächte, Morgenstunden, wie viel Schlaf hat dieser Bock ihn gekostet, wie viele Male nasse Füße, zerkratzte Hände, Hunger, Durst, vor allem aber bittere Enttäuschung und Wut, wie hat ihn dieses Tier umhergejagt, Waldwiesen hoch, Wiesen herunter, Stubben und Wurzeln überstolpert, nein, ein für alle Mal, er wird jetzt damit Schluss machen, es ist sein Gottesurteil, das hat er für sich beschlossen, es soll ihm zeigen, was er noch wert ist in der Welt, als Jäger, als Mann, als Verleger, und flüchtig sieht er Karl May vor sich, sieht den weißhaarigen Schopf, die tiefblauen Augen, sieht das triumphierende Lächeln, hört die großen und kleinen Aufschneidereien …
    Los jetzt, befiehlt er sich. Aber, Kruzitürken, wo ist er? Höchstens ein paar Sekunden hat es gedauert, dass er den Blick abwandte, dass ihm seine Innensicht wichtiger war, dass er die Konzentration der Erinnerung opferte. Fehsenfeld beißt sich auf die Lippen, kaut an seinem roten Bart, wartet, wartet eine Viertelstunde, aber der Bock

Weitere Kostenlose Bücher