Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
lässt sich nicht mehr sehen.
Verflixt! Aber dann überlegt er und ist mit diesem Wink des Schicksals seltsam zufrieden. Na und? Dann eben ein anderes Mal! Und wegen der grauen Decke ist es ihm sogar lieber so. Zu Hause und bei den Jägern würden sie ihn auslachen: Kommt mit einer grauen Decke, weil er es nicht abwarten konnte! so wird der Stubbenbrandt lästern.
Nun wird er aber das Ansitzen aufgeben. Fehsenfeld will noch ein bisschen umherwandern und dann zurück zu seinem Lehenhof gehen. Am Abend werden die Mädchen, wird Paula kommen, auch der Felix und der Krämer. Man will sich besprechen, wie mit dem May-Drama und mit den Deckelbildern zu verfahren ist, Felix ist ja durch May besser informiert als er selber, aber das macht nichts, der Alte weiß nicht, dass sie sich immer bestens abgestimmt haben und dass jeder Brief offen herumgezeigt und besprochen wird, auch über das Illustrationsprojekt wird zu reden sein, nein, er will da nicht locker lassen, hat die beiden hier heraufgebeten – man werde ein paar Flaschen Roten trinken … schade mit dem Bock, man hätte einen schönen Braten gehabt, aber nun ja, nichts zu machen, ein aufgeschobenes Urteil ist kein aufgehobenes Urteil …
Fehsenfeld schultert den Drilling und geht achtlos am Waldrand, über Wiesen und kleinere Forststücken seinem Ziele zu. In Gedanken durchdenkt er nochmal seine Geschäftsprobleme, findet sie gar nicht so ausweglos, eine kleine Fröhlichkeit schleicht sich in sein Herz und er beginnt ein altes Kinderlied zu summen.
Doch, was ist das da? Ein rotes Reh?
Es wird eine dürre Lärche sein, der die Sonne die Feuerfarbe gibt. Aber nein, es ist ein Reh, ein feuerrotes Reh, das keine neunzig Meter drüben zwischen dem Nadelgehölz an dem Waldgras äst. Eine ziemlich alte Ricke, denkt er, denn sie ist am Kopfe schon kahl. Fehsenfeld duckt sich, pirscht sich leise und vorsichtig an. Schon lange hat er kein so rotes Reh mehr gesehen. Merkwürdig ein solcher Kurzhals, und sie schiebt die Hinterläufe genauso wie ein Bock. Sollte es der alte Plattkopf sein? Der von drüben nämlich, den er heute schon ganz kurz bei den Ricken sah? Doch der könne ja unmöglich hier in diesem Gebiet sein. Nein, jetzt dreht er sich, es ist tatsächlich der alte Bock von heute Morgen. Den muss er haben. Koste es, was es wolle. Aber wie? Keine Deckung, verdammt. Außerdem, es ist ziemlich weit, sogar fürs Fernrohr. Doch wenn er hier auf dem großen Stein auflegt, könnte es gehen. Fehsenfeld bringt sich in Schussposition. Ja, jetzt wird es klappen, er rutscht sich vorsichtig zurecht, zielt, zielt lange, hält die Luft an, das Fadenkreuz genau aufs Blatt gerichtet. Ein trockener Knall.
Oh, der hat gesessen. Wie der Rehbock aufsprang und die paar Sätze machte! Fehsenfeld geht langsam näher. Da liegt er im Waldgras und er leuchtet wunderschön. Ein guter Bock, gut im Futter und so herrlich rot. Was will er mehr. Es ist zwar nicht das Gottesurteil, aber dicht daneben. Es wird sich alles fügen, vielleicht, denn sein Glück scheint ihn nicht zu verlassen, vielleicht …
Und er denkt den Gedanken nicht zu Ende, bricht den Bock auf, schultert ihn dann und geht wiegenden Schrittes in Richtung seines Lehenhofes davon. Imposant ist sie anzusehen, die hohe Gestalt des Friedrich Ernst Fehsenfeld, wie er kräftig ausschreitet, wie er, den Rehbock geschultert, an diesem Frühsommertag durch die Wiesen und Waldstücken läuft, und wie der Kopf des toten Tieres an seiner Linken schlaff herunterhängt und bei jedem Schritt einen kleine schlenkrige Bewegung macht. Wie schön wäre es, sagt sich der Jäger Fehsenfeld und summt wieder sein altes Lied, ach, wie schön, wenn jetzt noch das Hornsignal ertönte.
„Die Jagd ist aus, die Jagd ist aus!“
* * *
In der Henßstraße in Weimar gab es 1906 zahllose prächtige, mehrstöckige Bürgerhäuser, die dort in den letzten 15 bis 20 Jahren eines nach dem anderen errichtet wurden. Würdig, in verschiedenen Farben des Wandputzes, vom Weiß bis zum hellen Ocker, vom zarten Lindgrün bis zum eintönigen Grau, so standen sie, geziert mit mächtigen überhängenden Dächern, die von Schindeln aus schwarzgrauem Schiefer oder rotem Ton bedeckt waren, erhaben, bieder, Respekt einflößend, und doch konnte man bei ihrem Anblick, wenn man wollte, in eine Art Melancholie fallen, denn diese Häuser glichen alten Festungen oder Klöstern, hinter deren Mauern unentdeckte Geheimnisse und niemals enthüllte Schicksale zu lauern
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