Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
schienen. Schweigend und übergroß standen die Häuser. Was mochten sie bergen? Welche Leidenschaften, welche Konflikte herrschten hier, welche Tode wurden in ihnen gestorben? Was für Menschen lebten in ihnen? Man fragt sich:
Kann man einem solchen Haus von außen ansehen, kann man erahnen, was es im Innern verbirgt, was niemals ans Licht der Öffentlichkeit dringt? Man weiß, ein jedes Haus hat, wie die Menschen, die darin wohnen, und verbunden mit ihnen seine eigene Geschichte, seinen eigenen Charakter oder sogar sein eigenes Schicksal. Manchmal kann man das an Kleinigkeiten erkennen, ohne auch nur einen einzigen Bewohner gesehen oder gesprochen zu haben, man sieht es zum Beispiel an den Fenstern, die wie menschliche Augen, stumpf oder glänzend sein können, blass, unscheinbar oder anzüglich und protzig wirken, die verschieden in ihrer Farbe erscheinen, obwohl man doch meinen sollte, Glas sei Glas und sehe immer gleich aus. So erscheinen manche, wenn sich die Sonne darin spiegelt, in blauem Schimmer, mit grünem, geheimnisvollem Glanz oder von stumpfem, leblosem Schwarz. Noch deutlicher wird das „Augenschicksal“ der Häuserfenster, wenn man hinter den Glasscheiben die verschiedenen schmückenden Gardinen und einzelne Gegenstände erkennen kann, welche die Bewohner von innen auf ihre Fensterbretter gestellt haben. Was sieht man da nicht alles: Kunstgewerbliches, Kitsch, sogenannte Volkskunst, Kerzenleuchter aller Arten und Größen, natürlich mit verschiedenen Kerzen versehen, aber auch solche ohne Kerzen sieht man, dann zahllose Vasen, von hochwertigem Porzellan bis zu alten Tonkrügen, und eine unüberschaubare Zahl von Porzellanfiguren, Tänzerinnen, Harlekine, Reiter, verschiedenste Tiere, nicht nur in edlem porzellanenem Weiß, nein, auch kunstvoll bemalt und natürlich schmücken Blumen die Fenster, nicht nur in sogenannten Blumenkästen von außen angehängt, nein, besonders auch innen sieht man immer wieder Blumen, Blumen in allen Farben und Formen, Rosen, Priemeln, Nelken, Sonnenblumen, alles, was es gibt und was die Jahreszeiten hergeben, als Schnittblumen, als Topfpflanzen, auch Kakteen, Wüstenpflanzen, kleine Palmen, Setzlinge – wahre Gärtnereien, richtige Tropenschauen, wie man sie sonst nur in Gewächshäusern antrifft, findet man hinter den Fenstern jener Bürgerhäuser …
All diesen Fensterschmuck sah man auch im Haus Henßstraße Nummer 10. Wenn man an der imposanten Fassade emporschaute, zog der vorgebaute Erker, der über drei Etagen ging und oben im Dachgeschoss, in einem von Schiefer umkleideten Türmchen endete, die Blicke des Betrachters, mehr noch als der geschwungene barocke Giebelfirst in der Mittelfront des Hauses, unwiderstehlich magisch an.
Seit dem Frühjahr des Jahres 1905 konnte man in der Beletage dieses Hauses Nummer 10, und zwar im mittleren Fenster des Erkers, ein hölzernes Gliederpüppchen stehen sehen. Es war ein Püppchen, etwa 50 cm hoch, aus hellbraunem, poliertem Holz, wie es manche Bildhauer noch heute als Modellpuppe verwenden. So ein Püppchen also, ohne Finger und Zehen, ohne Nase und Mund, ohne Augen, aus runden gedrechselten Holzstücken, von einem biegsamen Draht im Innern zusammengehalten. Sonst sah man hinter den Erkerfenstern und den anderen Fenstern dieser Wohnung keinerlei Blumen, keinen Kaktus, keine Vasen, keinen Kerzenständer, nichts, was in den anderen Wohnungen des großen Hauses die Fenster in großer Fülle schmückte. Nur schwere, für Blicke undurchdringliche Gazegardinen hingen weiß, unbeweglich, abwehrend hinter den Fenstern herunter.
Jetzt, nach mehr als einem Jahr, hatte sich an diesem Anblick nichts geändert. Noch immer reckte das kleine Gliederpüppchen einsam die Ärmchen, noch immer stand es in graziöser Stellung, das eine Beinchen nach hinten gebogen, so als wolle es aufspringen und davonlaufen, stand ohne Blumenbegleitung, ohne Topfpflanzenkonvoi, ohne jede Keramik in seinem mittleren Erkerfenster, stand in der Beletage des Hauses Henßstraße Nummer 10.
Das Zimmer hinter dem Gliederpüppchen, hinter dem dreifachen Erkerfenster war groß und hell. In seiner Mitte stand ein breites Bett, ein Bett, von einem Messinggestell gehalten, dessen gebogene kunstvolle Rohre im Stil der Zeit in zierlichen Bögen und Kreisen ungewöhnlich aussahen. Das Bett war zur Hälfte mit einer Decke bedeckt, die rot, mit goldenen Blumen und dunkelblauen Girlanden geziert, einem Gemälde von Gustav Klimt zu entstammen schien. Unter dieser Decke,
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