Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
und du hast ihm dafür deinen Arm, deinen Pinsel, deine Stifte, deine Kartons geliehen, doch nun siehst du, wohin das führt. Es ist ein Irrweg, glaube mir …
Der Maler hat still und mit wachsendem Entsetzen zugehört, unbeweglich hat er dagestanden und auf den eifernden Freund gestarrt. Er weiß, dass Hellmut in vielem recht hat, er weiß, dass May und er in Wahrheit nicht zusammenpassen, dass es ein Bündnis auf Zeit war, und doch liebt er den alten Mann. Er verehrt ihn wie einen Vater, wie einen weisen Medizinmann. Und er tut ihm leid, er sieht ihn vor sich, wie er seinen Brief, so er ihn schreiben wird, in den zitternden Händen halten wird. Eine Welt wird für ihn zusammenbrechen …
Ob er den Brief in dieser Weise schreiben wird? Soll er es tatsächlich tun? Sascha Schneider weiß es nicht. Er zweifelt. Was haben sie nicht beide, May und er, in den letzten Jahren erreicht. Ein halbes Universum haben sie gemeinsam errichtet. Wo wäre er ohne diesen alten Mann? Er wäre verdämmert, verhungert, stand er doch ganz am Rande … kann er ihn jetzt auf diese Weise verstoßen?
Der andere, der Freund, Hellmut Jahn, sieht das Zaudern. Seine Augen glänzen, er wähnt sich kurz vor seinem Ziel.
Eindringlich spricht er: Was zögerst du? Bedenke: Er oder ich. Alt gegen jung. Leben gegen Tod. Willst du einem frömmelnden Alten, einem, der im Leben nichts mehr vermag außer religiösen Fantastereien, willst du so einem jetzt noch Treue schwören? Schau mich an. Hier steht das pralle Leben. Hier steht die Liebe und die Zukunft. Ich wiederhole mich: Wenn du mich willst, dann brich mit diesem Greis. Einen anderen Weg lasse ich dir nicht … und wie um seine Worte zu unterstreichen, beginnt sich Hellmut Jahn anzukleiden, zieht sich sogar die Schuhe an, kämmt sich die Haare, will zur Tür gehen.
Nein, Hellmut warte, bitte warte noch. Und Schneider, der sich seiner Schwachheit bewusst ist, der sich dafür schämt, Sascha Schneider weiß, dass er von diesem Jungen nicht lassen kann. Es ist wie eine Sucht. Oh, er liebt diesen Jungen, mag er noch so kalt, so böse und so herrisch sein, mag er ihn manchmal verfluchen, er ist ihm verfallen. So läuft er hinter ihm her, hält ihn am Arm fest, reißt ihn an sich, küsst ihn …
In diesem Moment, noch in ihrer Umarmung, hören die beiden Männer, dass ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wird. Die Tür geht auf und Lilly Schneider kommt mit dem Frühstückstablett herein. Einen Moment stutzt sie, doch dann, ganz tolerante Schwester, lächelt sie, sagt, na, da habe sie ein kräftiges Frühstück mit ein paar Eiern ja nicht umsonst bereitet.
Was sie denn zum Mittag wünschten, die Herren? Oder gingen die Herren aus?
Die Männer schütteln die Köpfe. Nein, man bleibe heute zum Sonntag daheim, man wolle es sich gemütlich machen, außerdem, man habe zu tun. Sascha wolle einen langen Brief schreiben.
Schneider nickt.
Er streichelt der Schwester die Wange. Danke. Was wären wir ohne dich …
* * *
Es ist ein Spätnachmittag mitten im Hochsommer. Noch immer steht die Sonne hoch, noch immer drückt die Julihitze erbarmungslos, noch immer ist am Himmel keine Änderung zu sehen, keine Wolkenfront, nicht mal leichte Federwolken, stählernes Blau überall, kein Lüftchen weht, keine Abkühlung scheint in Sicht.
Aus der Gartenpforte der Villa Kirchstraße Nummer 5 tritt ein weiß gekleideter Herr mit Hut, an einer Leine führt er einen kleinen weißen Terrier mit sich. Weiß, abweisend, von der Sonne bestrahlt, in seinem Rücken die Hausfront. Hinter einem der geschlossenen Fenster im ersten Stock steht eine Dame, unbewegt, wie versteinert, mit scharfem Blick beobachtet sie Mann und Hund.
Komm, Seelchen, sagt der Mann mit Hut, es ist Karl May, wir wollen hinüber ans Grab von Geistchen. Schau, von oben sieht uns das Frauchen zu. So komm, was sträubst du dich? May zieht das widerstrebende Tier über die Straße, betritt den parkähnlichen Garten, steuert auf eine schattige Stelle zu, wo ein kleines Holzkreuz davon kündet, dass sich hier das Hundegrab befindet. Er verharrt davor, ja er faltet sogar die Hände, murmelt irgendwas. Der Terrier schnüffelt, beginnt in der Erde zu wühlen. Seelchen, lass das, sagt May, lass deine Kameradin in Frieden ruhen. Man sieht, das Grab ist noch frisch, die Hündin erst vor drei Wochen gestorben. Karl May geht ein paar Schritte beiseite, setzt sich auf eine weiß gestrichene Bank, macht den Hund von der Leine los. Er kreuzt die kurzen, etwas
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