Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
krummen Beine, sucht in den Jacketttaschen nach dem Feuerzeug, nimmt sich eine Zigarre aus dem Etui, zündet sie an, raucht. So sitzt Karl May rauchend im Halbschatten und er sieht alt und erschöpft aus, mit dem Hut fächelt er sich Kühlung zu. Tief liegen die Augen, violett die Ringe darunter, spitz das Kinn. Fünfundsechzig wird er im nächsten Jahr. Der Streit mit seinen Gegnern hat beinahe seine ganze Kraft gekostet. Kraft und viel Geld. Auch mit seinem Verleger in Freiburg ist schönste Zeit vorbei. Andauernd liegen sie sich in den Haaren. Wenn da der Kontakt mit Krais nicht wäre … ein netter Kerl, der Kommerzienrat Krais. Dabei, was er, sagt sich May, jetzt als alter Mann, noch alles leisten müsse. Ein ungeheurer Berg türme sich vor ihm auf …
Und er weiß, diese letzen Höhen, diese Gipfel, sind noch nicht erklommen: Ardistan muss weitergehen, Winnetou vier ebenso. Tausend anderes noch. Kleines, Größeres, zahllose Vorhaben. Erzählungen, Märchen, Essays. Eine neue Welt gelte es zu formen. Denn alles, was er bisher geschrieben, sei nur ein Vorspiel gewesen, eine Art „Le Prelude“, sagt er zu sich auf der weiß gestrichenen Bank, und er ist dazu übergegangen, eine Art Selbstgespräch, so eine Unterhaltung mit sich selbst zu führen, wie er sie in letzter Zeit häufiger abhält: Oh ja, sein ganzes bisheriges Leben – ein Vorspiel, alles sei nur Vorbereitung auf das Eigentliche, sagt er sich, denn dieses Eigentliche, die Vollendung seiner Bestimmung, seine wahre Verwandlung, die komme noch, die stehe ihm und der Welt noch bevor. Oh, selbst seine arabische Fantasie „Bibel und Babel“ sei nur ein solches Vorspiel gewesen, murmelt er und zieht an seiner Zigarre, nur eine Einleitung – ein „Le Prelude“…
Aber gerade dies, sein Bibel-und-Babel-Drama liegt nun wie ein Felsblock und keiner wälzt ihn weg. Wenn er nicht selber Rezensionen darüber angestoßen hätte, Freunde, alte und jüngere, wenn er die nicht aufgefordert hätte, dann herrschte das berühmte Schweigen im Walde. Aber er wird darum kämpfen, immer wieder. Er kann nicht anders, als zu kämpfen.
Seine Gedanken irren ab. Freundlich, mit einem feinen Lächeln erinnert er sich, während er sitzt und raucht, den Hund beobachtet, der in seinem Geruchsreich schnüffelt, scharrt und schwelgt, erinnert sich an den gestrigen Tag, den lieben Besuch von Marie Hannes und ihrer Freundin, ach, wenn man denn doch immer nur von solchen lieben Menschen umgeben wäre, wie schön wäre es, wie friedlich …
Die Zigarre ist bald aufgeraucht und es ist zu warm.
Komm Seelchen, wir gehen zurück ins kühle Haus. Komm, verabschiede dich von deinem toten Geistchen …
Als May dann über die Straße geht, der Hund ist schon voraus und kratzt an der Vorgartentür, kommt der Postmann Persicke mit der Nachmittagspost heran. Persicke, auch der alt geworden, kurzsichtig, grau, gebeugt und kurz vor der Pensionierung, schleppt an seiner schweren Tasche. Müde hebt er die Füße. Lange werde er die Nachmittagstouren nicht mehr machen können, sagt er sich, er tue es nur seinen Kunden zuliebe, im nächsten Frühjahr werde er sich zur Ruhe setzen … Er stutzt. Im letzten Moment erkennt er Karl May.
Oh, hallo Herr Doktor.
May schaut auf, runzelt die Stirn, das mit dem Doktor … will er sagen, aber er lässt es.
Was gibt es denn, Persicke? Eine Hitze ist das heute, furchtbar.
Der Postmann nickt müde. Oh, er habe da noch einen Einschreibebrief aus Weimar. Doppelte Marken. Ein Eilbrief sogar.
Aus Weimar? Ein freudiges Leuchten huscht über Mays Gesicht. Aus Weimar?
Geben Sie her, Persicke.
Der Postmann kramt in seiner Tasche, übergibt den Brief.
Ein Buch zum Signieren haben Sie heute nicht?
Nee, Herr Doktor, wir haben ja von Ihnen alles gelesen. Und der Junge ist aus dem Haus. Und meine Alte und ich, wir lesen kaum noch. Und die neuen Bücher von Ihnen, verzeihen Sie, da sind wir nicht gescheit genug, das ist was für Studierte. Hab jetzt noch mal in Ihrem Winnetou gelesen. Fand ihn beim Aufräumen. Ja, das waren noch Zeiten …
Ja, das waren noch Zeiten, da haben Sie recht, Persicke.
May nimmt den Brief in beide Hände. Der Absender. Ja, tatsächlich von seinem Sascha Schneider. Oh, wie freut er sich. Was wird er über sein Drama schreiben? Ob er es gelesen hat? May geht ins Haus. An der Haustür, Klara ist von oben heruntergekommen, bestürmt er sie. Stell dir vor, sagt er, Schneider hat geschrieben. So eine Freude!
Na, lies erst einmal, entgegnet
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