Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Vortrefflich, vortrefflich …
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Im Polsterabteil der ersten Wagenklasse des Durchgangszuges Dresden–München mit Halt in Gera, Weimar, Meiningen, Hof und Nürnberg saß auf einem der vorbestellten Plätze eine sehr sorgfältig, indes warm eingekleidete Dame mittleren Alters. Es war Ende Oktober und bei der Abfahrt hatte man auf den Wagendächern, auf den Puffern und Kupplungen, an den äußeren Fenstern eine grauweiße Reifschicht gesehen. Der Zug war in Dresden Altstadt zusammengestellt worden, die Waggons hatten die Nacht im Freien gestanden. In den Abteilen und auf den Gängen der Wagen war es deshalb noch empfindlich kalt. Der Schaffner hatte, von Abteil zu Abteil eilend, die Fahrgäste beruhigt, keine Sorge, sobald die Fahrt begonnen habe, werde es warm, Herrschaften, dann würden die Heizungen sozusagen automatisch mit heißem Wasserdampf versorgt, sie könnten unbesorgt ihre Mäntel, Schals und Hüte ablegen.
Der Zug fuhr an, und tatsächlich, nach zwanzig Minuten Fahrzeit, man passierte gerade eine waldreiche, schluchtenzerklüftete Gegend, den Plauenschen Grund, ein paar Kilometer südlich der Residenzstadt, da wurde es schon ein wenig wärmer. Die Dame legte ihren Muff und die Pelzkappe ab, beide von rötlichem Fohlenfell, sie öffnete ihren Mantel, schlug unter dem langen dunkelgrünen Winterkleid die Beine übereinander, sodass die hellbraunen Spitzen ihrer Stiefeletten sichtbar wurden, und sie schaute sich um im Abteil. Ihr gegenüber hatte ein Herr mit Zwicker und grauem Schläfenbart Platz genommen, auch er lüftete seine Kleidung, zog eine Zeitung aus seinem Köfferchen, das klein und gelb neben ihm stand, und begann darin, seltsamerweise von der letzten Seite her, zu lesen. Neben ihm eine junge Dame, kaum zwanzig, spähte mit gerecktem Hals hinaus auf den Gang des Waggons, ein junger Leutnant, der dort rauchte, schien ihr Interesse zu erregen; ihr Gegenüber, ein dicker, älterer Herr im zotteligen Pelz, hatte seine picklige rote Nase auf die Brust, dem vorgewölbten Bauch entgegen, gesenkt und schlief, ab und zu tat er einen tiefen Seufzer. Zwei der Plätze im Abteil waren frei, es war Mitte der Woche, keine Zeit für einen starken Reiseverkehr. Auf dem freien Platz neben sich hatte der dicke Herr seine Reisetasche stehen lassen, er hatte sie nicht ins Gepäcknetz heben wollen und es störte keinen. Über dem anderen unbesetzten Sitz lag, leger und unordentlich, eine kurze modische Pelzjacke. Sie gehörte offenbar der jungen Dame. Niemanden schien diese Art der Platzbelegung zu stören. Die Insassen des Abteils schwiegen, es schien, als beachteten sie einander nicht, und doch sah man verstohlene, musternde Blicke, man sah Augenbrauen sich heben, Nasen sich rümpfen, Stirnen sich runzeln, Münder sich verziehen oder halb öffnen; und man konnte sicher sein, es würde nicht lange dauern, dass die ersten zaghaften Gespräche, Fragen nach dem Wetter, Fragen nach dem Wohin und Woher, politische Tagesansichten, Familiäres, Klatsch und Tratsch zustande kämen.
Die gut gekleidete Dame, sie mochte um die vierzig sein, lauschte dem monotonen Rattern der Zugachsen, sie hatte ihren Kopf jetzt abgewendet, sah durch das trübe, ein wenig angelaufene Fenster hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft, die Iris ihrer Augen war von einem ungemein hellen, stählernen Blaugrau. Die Pupillen eng zu kleinen schwarzen Punkten gezogen, sah sie durch die Scheiben, aber sie starrte blicklos, sie dachte nach, erinnerte sich an die Ereignisse der letzten Tage: Besonders der Abend bei dem Architekten Kreis steht ihr lebhaft vor Augen. Ach, wie herzlich sie doch mit der Hedwig Kreis, seiner Gattin, ausgekommen ist. Klara! hat die gleich nach der ersten halben Stunde gesagt, wir sollten Freundinnen werden, sie sei zwar die Jüngere, aber lass uns „Du“ zueinander sagen; wie die Kinder seien doch ihre Männer, der Karl und der Wilhelm gleichermaßen, wenn sie auch im Alter ein paar Jahre auseinander lägen. Sie bräuchten weibliche Führung, diese Männer, damit sie sich nicht selber schadeten. Und sie fühlte, hat die Hedwig gesagt und Klaras Hand gestreichelt, sie fühlte, wir beiden Frauen würden gut zueinander passen.
Ach, was für eine liebe, was für eine geistvolle Frau ist doch diese Hedwig Kreis. Und sie sind ja fast im gleichen Alter, Hedwig und sie, die Klara May. Na gut, sechseinhalb Jahre trennen sie, aber was sind schon sechseinhalb Jahre? Und die Kreis’ haben keine Kinder. Wie sie, die Mays, auch.
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