Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
ich meine.
Wir stehen, meine Freunde, gerade jetzt in einer Zeit, die alte Formen zerbricht. Wir sehen es wieder besonders in der Kunst, und dort zuerst, weil unsere Augen das unmittelbarste unserer Sinnesorgane sind, in der Malerei. Und wieder ist es hier unser Freund Schneider, der uns am deutlichsten zeigt, wie das Alte durch Neues abgelöst wird. Lieber Hans Unger, lieber Richard Müller, bitte fühlt euch nicht zurückgesetzt, aber am heutigen Abend, der sozusagen ein „Schneider-Abend“ ist, ist nun einmal nur
er
der Mittelpunkt. Alles drängt auf Veränderung – wir sehnen uns nach neuen Idealen, nach einer neuen Kunst, nach dem Drama der Zukunft, nach dem großen Meister, der da kommen soll.
Das Fazit meines Dichterlebens ist: Die höchste, die inhaltsreichste und mir liebste Form der Kunst, der Poesie, ist das Märchen. Ich liebe das Märchen von allen Kunstformen am meisten. Deshalb bin ich mit der Zeit ein
Hakawati
geworden. Dieses arabische Wort bedeutet „Märchenerzähler“. Alle meine Bücher sind am Ende Märchen. Nur, wer das verstanden hat, der hat Karl May verstanden.
Was aber ist das – ein Märchen?
Es gibt irdische Wahrheiten und himmlische Wahrheiten. Die irdischen werden uns von der Wissenschaft gebracht. Die himmlischen steigen an den Strahlen der Sterne zu uns nieder. Eines Tages kam die himmlische Wahrheit zu den Menschen, sie wurde aber von ihnen abgewiesen; man wollte sie nicht. Trauernd kehrte sie zu Gott zurück und klagte, dass man ihr keine bleibende Stätte gewähre, ja sie nicht einmal einlasse. Gott tröstete sie und sprach:
Versuche es noch einmal, wähle dir einen Dichter aus und lass dich von ihm in das Gewand des Märchens kleiden, dann wird man dir Einlass gewähren. Die Wahrheit tat, wie ihr geheißen, und sie ging sich einen Dichter suchen. Als sie ihn gefunden hatte und er sie, ins Märchengewand gehüllt, von Neuem zu den Menschen sandte, wurde sie freudig aufgenommen: schien sie doch nur ein harmloses Märchen zu sein!
Das, meine Freunde, ist das einfache und große Geheimnis des Märchens, was es soll, was es will und was es bewirken kann. Und genauso verhält es sich mit all der anderen Kunst. Je verkleideter, je „märchenhafter“ sie daherkommt, desto leichter wird sie von den Menschen aufgenommen, und die Wahrheit kann in unsere Seele dringen wie eine heilende Medizin in unseren Körper.
Und so wie ich ein Märchenerzähler bin, so ist unser Freund Schneider ein Märchenmaler. Deshalb sind wir uns so gleich, streiten an der gleichen Front, nur mit unseren jeweiligen Mitteln, ich mit der Poesie und er mit dem Pinsel. Ich schreibe, er malt Gleichnisse und Märchen, er verwandelt Wahrheiten in Zauberwesen und Monster, in Engel und Teufel. Aber wir sind in Wirklichkeit eins.
Wir sind Brüder im Geiste – Geistesbrüder!
Weshalb ich sage, ich bin froh, diesen Mann meinen Freund zu nennen, wir sind verbunden, als wären wir Blutsbrüder wie Winnetou und Old Shatterhand.
Wieder macht May eine Pause, beobachtet verstohlen seine Zuhörer.
Auf einmal löst sich der rumänische Konsul, der Fabrikant Mühlberg, aus dem Zuhörerkreis, kommt leise, beinahe schamhaft und so, als wolle er niemanden stören, auf den Redner May zu, zieht ihn am Ärmel, flüstert ihm ins Ohr. May nickt, er macht eine Geste, so als bitte er um Ruhe, obwohl doch niemand gestört hat, sagt, zum Schluss wolle er mit einem Symbol enden …
Vor dieser Runde, liebe Freunde, sagt er, will ich unserem, will ich meinem Freund Schneider einen offiziellen Auftrag erteilen. Sozusagen in aller Öffentlichkeit. Vielleicht sogar als eine Art Wette. Wenn wir uns in dieser Runde wieder treffen, dann bei mir in meiner Villa Shatterhand in Radebeul, dann will ich euch einen neuen Schneider präsentieren. Das wette ich. Noch verrate ich nicht das Thema, noch wo es aufgehängt werden soll, das neue Bild. Das mag mein junger Freund selber bestimmen. Aber euch, liebe Freunde, die ihr heute Zeuge dieses öffentlichen Auftrages geworden seid, lade ich schon jetzt zur sogenannten Hängung ein … Abgemacht?!
May blickt zu Schneider, der steht, als hätte ihn der Blitz getroffen, mit hängenden Armen, verstört, die Augen rot und aufgerissen, an seinem Platze.
Na, mein Lieber, ruft ihm May fröhlich zu, was sagen Sie nun? Überraschung gelungen?!
Die Runde applaudiert. Man ist aufgesprungen, überrascht, freudig, begeistert. Jubel herrscht im Persischen Salon. Kreis, in der Mitte seiner Gäste, ist bester
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