Die Gejagte
niemals.«
Da erwachte irgendetwas in Jenny. Normalerweise wurde sie ziemlich schnell wütend und beruhigte sich auch ebenso schnell wieder, wie ein sommerlicher Wolkenbruch. Jetzt aber spürte sie, wie sich langsam etwas anderes in ihr entfachte, ein bewusster, beständiger Zorn, der lange Zeit brennen würde.
»Vorsicht, Jenny«, sagte Julian noch einmal sanft.
»Ich werde dir niemals nachgeben«, erklärte Jenny ihm ebenso sanft. »Lieber werde ich sterben.«
»Dazu wird es nicht kommen, hoffe ich. Aber es könnten andere Dinge geschehen – sobald du anfängst, das Spiel zu spielen, kann ich die Regeln nicht mehr ändern. Deine Freunde könnten leiden.«
»Was? Wie?«
Er schüttelte den Kopf. »Jenny, Jenny. Verstehst du denn gar nichts von alledem, was hier los ist? Sie alle spielen das Spiel. Sie haben zugestimmt, das Risiko auf sich zu nehmen. Jetzt werden sie die Konsequenzen tragen müssen.« Er drehte sich um.
»Nein – warte!«
»Es ist zu spät, Jenny. Ich habe dir eine Chance gegeben, du hast sie abgelehnt. Von jetzt an werden wir das Spiel spielen.«
»Aber …«
»Du kannst mit diesem Rätsel beginnen.« Er drehte sich um, legte den Kopf leicht schräg und rezitierte:
»Ich bin einfach zwei und zwei,
Mal kalt, mal heiß dabei,
Hab ich Kinder ohne Zahl.
Bin ein Geschenk für alle Zeit
Oder nur ein Zeitvertreib.
Geraubt gibt man mich ohne Qual.«
Jenny schüttelte den Kopf. »Das verrät mir, wer du bist?«
Er lachte. »Nein, das verrät dir, was ich von dir will. Gib mir die Antwort und ich werde einen deiner Freunde gehen lassen.«
Jenny verbannte das Rätsel in ihren Hinterkopf. Es ergab keinen Sinn, und solange Julian im Raum war, war es ihr sowieso unmöglich, sich auf etwas anderes als ihn zu konzentrieren.
Während all der Zeit in diesem Salon hatte er seine seltsame gute Laune und seinen Charme nicht verloren. Er liebte dieses Spiel und amüsierte sich bestens.
»Das ist alles«, erklärte er. »Dann kann das Spiel beginnen. Übrigens, wenn du in diesen Albträumen verletzt wirst, ist die Verletzung real. Wenn du stirbst, stirbst du. Und ich kann dir gleich sagen, dass einer von euch es wahrscheinlich nicht schaffen wird.«
Jenny fuhr auf. »Wer?«
»Das möchtest du wohl gern wissen! Sagen wir einfach, dass einer von euch wahrscheinlich nicht die Kraft hat, durchzukommen. Oh, habe ich das Zeitlimit schon erwähnt? Die Tür im Türmchen – die Tür, die in deine eigene Welt zurückführt – wird sich bei Tagesanbruch schließen. Was morgen exakt um sechs Uhr elf der Fall sein wird. Wenn du es bis dahin nicht zur Tür geschafft hast, sitzt du hier fest – also verschwende keine Zeit. Hier ist etwas, das dich daran erinnern soll.«
In weiter Ferne, aber vollkommen klar, schlug die Glocke
einer unsichtbaren Uhr. Jenny wandte sich dem Geräusch zu und zählte unbewusst mit. Zehn.
Als sie sich wieder umdrehte, war Julian verschwunden.
Jenny war wie gelähmt. Kein einziges Geräusch war zu hören. Die Seidenfransen der grünen Lampe kräuselten sich leicht; davon abgesehen war alles still.
Panische Angst erfasste sie. Sie war völlig allein. In einem Haus, das nicht existierte.
Nein, flipp jetzt bloß nicht aus. Denk nach. Sieh dich um. Vielleicht gibt es einen Ausweg.
Sie ging zum Fenster und zog die schweren pfauenblauen Samtvorhänge beiseite. Dann erstarrte sie.
Ihr stockte der Atem, ihre Augen weiteten sich wie die eines Rehs. Dann zog sie die Vorhänge wieder zu, bis sie einander überlappten, und drückte sie mit beiden Händen gegen das Fenster. Sie konnte sich kaum dazu überwinden, den weichen Stoff loszulassen, aber schließlich tat sie es doch und wich dabei so schnell wie möglich zurück. Sie wollte nicht noch einmal nach draußen schauen.
In eine Landschaft des puren Grauens. Wie etwas aus der Eiszeit – gemalt von einem wahnsinnigen Impressionisten. Ein Schneesturm, durch den riesige, ungelenke Gestalten stolperten. Blaue und grüne Blitze wie von einem Gewitter beleuchteten die auf bizarre Weise entstellten Kreaturen, die über den eisigen Boden krochen. Gewundene Felsspitzen drehten sich wie Korkenzieher in einen blanken weißen Himmel.
Da draußen würde sie keine Minute überleben.
Wenn der Teufel Schlittschuh läuft, dachte Jenny. Also, war die Hölle bereits zugefroren?
Oh, wie witzig. Michael würde das bestimmt zu schätzen wissen. Sie spürte Tränen, die ihr in den Augen brannten und in der Nase. Wie ein Häufchen Elend stand sie
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