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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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»Nein, vielen Dank«, sagte sie höflich. »Nicht in einem maßgeschneiderten Leinenrock. Hört mal, ihr zwei, warum tut ihr das überhaupt? Warum setzen wir uns nicht einfach hin und weigern uns mitzuspielen?«
    »Hast du mir vorhin überhaupt zugehört?«, fragte Jenny. »Wenn wir bis Tagesanbruch noch hier sind, werden wir für immer hierbleiben. Wir verlieren automatisch.«
    »Und ich habe noch niemals irgendetwas durch Untätigkeit verloren«, erklärte Dee. Dann fügte sie hinzu: »Jetzt.«
    Hinter der Tür befand sich ein Wald.
    Ein kühler Windstoß zerzauste Jenny das lose Haar. Es roch wie im Sommer-Camp.
    »Oh Gott«, sagte Jenny.
    »Nun, kommt schon«, sagte Audrey, und ihre perfekt lackierten Nägel blitzten in einer bereitwilligen Geste auf. »Dann bringen wir es eben hinter uns.«
    »Es ist einfach zu unheimlich«, murmelte Jenny, als sie eintraten – oder besser: nach draußen traten. »Dees Schlafzimmer war wenigstens ein Raum. Aber das hier …«
    Sie befanden sich auf einem Hügel am Rand eines dunklen Waldes. Über ihnen war der Nachthimmel mit Sternen übersät, die viel größer und heller waren als die, die Jenny normalerweise in ihrem Garten beobachten konnte. Gerade ging ein Mond aus purem Silber auf.
    Sobald sie hindurchgegangen waren, schlug die Tür hinter
ihnen zu und war erneut verschwunden. Hinter Jenny lagen Wiesen und Weiden, vor ihr ein verworrenes Dickicht von pechschwarzen Baumstämmen und Büschen. Die Mädchen standen im Mondlicht auf dem Hügel, allein.
    »Was jetzt?«, fragte Audrey, die heftig zitterte.
    »Das weißt du nicht? Aber das ist dein Albtraum – du hast ihn gezeichnet.«
    »Ich hab ein Bild von mir gezeichnet, wie ich den Katalog von Bloomingdales aufschlage und feststelle, dass er leer ist«, erklärte Audrey. »Das ist mein schlimmster Albtraum. Seht mich nicht so an – shoppen ist billiger als jede Therapie.«
    Und das war alles, was sie zu diesem Thema zu sagen hatte.
    In dem Tal unter ihnen waren einige verstreute Lichter zu sehen. »Es ist zu weit, um dorthin zu wandern«, bemerkte Jenny, »aber selbst wenn wir ankämen, glaube ich nicht, dass da wirklich Leute wären.«
    Audrey sah sie seltsam an, aber Dee nickte zustimmend.
    »Sieht aus wie eine dieser Modelleisenbahn-Landschaften  – oder wie eine Bühnenkulisse«, meinte sie. »Bloße Fassaden. Du hast recht, ich glaube auch nicht, dass wir dort unten Häuser mit Leuten darin finden würden. Das bedeutet …«
    Trostlos sahen sie in den Wald hinein.
    »Warum hab ich so ein schlechtes Gefühl?«, fragte Jenny.

    »Kommt«, sagte jetzt Dee. »Bringen wir es hinter uns.«
    Der Wald sah massiv und beinahe undurchdringlich aus, aber mit Dee an der Spitze bahnten sie sich einen Weg zwischen Kiefern und Fichten hindurch, und ab und zu leuchtete eine Buche silbrig grau vor dem dunklen Hintergrund.
    »Oh mein Gott«, sagte Audrey, nachdem sie einige Zeit so gegangen waren. »Hoher Grund, Tannen, Felsen – ich weiß jetzt, wo wir sind. Das ist der Schwarzwald.«
    »Klingt wie aus einer Geschichte«, murmelte Jenny auf ihrem Weg durchs Unterholz.
    »Aber es gibt ihn wirklich. Ich habe den Wald gesehen, als ich acht war und Daddy in der deutschen Botschaft gearbeitet hat. Ich – hatte ein wenig Angst, weil es der Wald war, versteht ihr.«
    Dee warf einen spöttischen Blick über ihre Schulter. »Der Wald?«
    »Der Wald, in dem alles passiert ist, wovon die Gebrüder Grimm in ihren Märchen erzählen. Ihr wisst schon, Schneewittchen. Hänsel und Gretel. Rotkäppchen und der …«
    Audrey brach mitten im Satz ab. Vor ihr hielt Dee ebenfalls inne. Jenny erstarrte.
    Direkt vor ihnen glühten gelbe Augen in der undurchdringlichen Schwärze. Jenny glaubte sogar, scharfe Zähne durch das Mondlicht schimmern zu sehen.
    Alle drei Mädchen standen völlig reglos da. Sekunden verstrichen, in denen sich die gelben Augen nicht bewegten. Plötzlich schienen sie den Blickwinkel etwas zu ver
ändern, sodass eines erlosch. Dann blitzten beide Augen wieder zu den Mädchen hinüber und schließlich erloschen beide. Jenny hörte es im Unterholz knacken. Das Geräusch wurde schwächer. Es verhallte in einer tiefen Stille, in der Jenny ihr Herz hämmern hörte, stark und sehr schnell.
    Sie stieß den Atem aus.
    Dee zog die Schultern leicht hoch. Sie bückte sich und hob einen langen Stock auf, dessen Durchmesser fast ihrem eigenen schmalen Handgelenk entsprach. Sie wog ihn in der Hand, drehte ihn hin und her und testete

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