Die Gejagte
die Ecke des Ateliers, in der Zach seine Fotos schoss. Zachs Fotoapparat stand auf einem Stativ. Die starken Schweinwerfer waren eingeschaltet. Den Hintergrund bildete ein Bogen Papier, der vielleicht einen
Meter achtzig breit war und von einer schier endlosen Papierrolle abgewickelt schien. Zach hatte schon jede Menge Fotos gemacht, indem er das Papier schwarz angemalt und einige Handvoll Mehl darauf geworfen hatte. Das Ergebnis sah ein wenig wie die Milchstraße aus – weiße Spritzer auf unendlichem Raum. Sehr fremdartig und futuristisch, Zach liebte solche Dinge.
Doch jetzt war auf den Hintergrund eine Tür gemalt.
Und ein Knauf ragte aus dem Papier.
Der Ausweg, dachte Jenny, als sie darauf zuging. Aber irgendetwas in ihr war sich da nicht so sicher. Aus irgendeinem Grund jagte ihr diese schwarzweiße Tür einen Schauder über den Rücken.
Welche Wahl hast du denn schon?, fragte ihr Verstand.
Sie drehte den Knauf. Die Tür schwang auf. Sie trat hindurch.
Es war, als hinge sie zwischen Sternen. Die Tür schloss sich hinter ihr, aber Jenny bemerkte es kaum. Der Himmel schien sehr niedrig zu sein, beinahe wie eine Decke. Er war schwarz mit glänzenden weißen Flecken. Der Boden war von samtig schwarzer Unendlichkeit, die sich in alle Richtungen erstreckte.
Es war schrecklich, dieses Gefühl eines unendlichen Nichts um sie herum, das an ihr zerrte. Es erinnerte sie an einen Traum, den sie einmal gehabt hatte: Der Boden zog sich endlos dahin, der Himmel dicht über ihr. Hatte Zach die gleiche Art von Träumen? War dies Zachs eigentlicher Albtraum?
Die einzigen Orientierungspunkte in der grenzenlosen Dunkelheit waren Lampen – jene Scheinwerfer, die Zach benutzte. Sie bildeten hier und da kleine Inseln der Helligkeit, einige weiß, einige farbig, und wurden in der Ferne schwächer.
Jenny drehte sich um und versuchte, sich zu orientieren – und sog scharf die Luft ein. Die Tür war immer noch da. Sie war nicht verschwunden. Sie konnte wieder hinausgehen.
Aber wenn dies Zachs Albtraum war, musste er hier irgendwo sein. Sie wollte ihn nicht sich selbst überlassen.
Nach einem Augenblick des Zögerns ging sie auf den nächsten Scheinwerfer zu, der neonpink erstrahlte. Es kostete sie einige Überwindung, sich von der sicheren Tür in ihrem Rücken wegzubewegen, und sobald sie den ersten Schritt getan hatte, hielt sie den Blick starr auf die Lichtinsel vor sich gerichtet. Der schwarze, samtene Boden fühlte sich vollkommen glatt an, ohne die geringste Unebenheit. In ihren flachen Schuhen konnte sie praktisch darüber schlittern.
Als sie den Scheinwerfer erreichte, sah sie, dass er einen pinkfarbenen Filter hatte, genau wie die, die Zach benutzte. Er bekam sie vom Fachbereich Dramatisches Gestalten, wenn dort farbige Scheinwerfer ausbrannten. Die Szene, die der Scheinwerfer jetzt beleuchtete, war genau die, die Zach einmal fotografiert hatte – die Pappkartonsilhouette von einem neonpinkfarbenen Kojoten im Gras. Das Foto war ebenso technisch raffiniert wie unheimlich
gewesen, wie alle Fotos, die Zach machte, aber Jenny hatte es immer gefallen. Doch in diesem Moment war die einsame, pinkfarben angestrahlte Kojotengestalt einfach nur Furcht einflößend.
Die Gestalt wartet auf den Fotografen, dachte Jenny. Und es sieht genauso aus, als habe sie schon immer dort gewartet.
Sie ging auf den nächsten Scheinwerfer zu, einen weißen, der vielleicht zehn oder zwölf Meter entfernt stand. Es war hier schwer, die Entfernungen abzuschätzen.
Der weiße Scheinwerfer beleuchtete eine Wand, eine einzelne, für sich allein stehende Wand, deren Fenster herausgebrochen waren. Silberne Punkte und Streifen zierten sie. Zach war oft in die verlassenen Häuser von Zuma Beach gegangen und hatte die Wände bemalt und fotografiert. Vandalismus, befand die Polizei, Kunst, befand Zach.
Jenny betrachtete zuerst die eine, dann die andere Seite der frei stehenden Wand. Sie war ebenfalls Furcht einflößend. Alles war hier so still …
Genau in diesem Moment hörte sie ein schwaches Klirren.
Das Licht des pinkfarbenen Scheinwerfers wurde etwas schwächer – nur für einen Augenblick, als sei etwas daran vorbeigegangen. Jenny stand stocksteif da und starrte in die Dunkelheit. Aber sie konnte nichts sehen und sie konnte auch nichts hören.
Nur deine Fantasie, beruhigte sie sich – aber es fiel ihr schwer, sich selbst zu überzeugen.
Während sie zum nächsten Scheinwerfer weiterging, warf sie immer wieder einen Blick
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