Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Barthillet kann nicht mit uns nach Megève fahren! Iris hat uns eingeladen, und wir können nicht irgendwelche fremden Leute in unseren Koffern mitnehmen.«
»Aber Max Barthillet ist doch kein Fremder!«
Es klingelte zweimal kurz an der Tür, und das rettete Joséphine vor einem Wutausbruch. Sie erkannte Shirleys energisches Signal, beugte sich vor, um Zoé einen Kuss zu geben und trug ihr auf, ihren Geschichtstext zu wiederholen und auf ihre Schwester zu warten, die bald nach Hause kommen würde.
»Ihr macht eure Hausaufgaben, und heute Abend feiern wir mit Shirley und Gary Weihnachten.«
»Und ich bekomme meine Geschenke schon früher?«
»Und du bekommst deine Geschenke schon früher …«
Voller Vorfreude hüpfte Zoé zurück in ihr Zimmer. Joséphine sah ihr nach und dachte bei sich, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie von ihren beiden Töchtern überfordert wäre.
Bis sie vom ganzen Leben überfordert wäre.
Könnte sie doch nur in die Zeit von Érec und Énide zurückkehren. Zu jener Liebe, wie sie Chrétien de Troyes einst pries.
Die höfische Liebe mit ihren Geheimnissen, ihren flüchtigen Berührungen, ihren Seufzern, ihrem zauberhaften Schmerz, ihren verstohlenen Küssen und der erhabenen Vorstellung vom anderen, dessen Herz man an der Spitze seiner Lanze trägt. Ich bin dazu geschaffen, in dieser Zeit zu leben. Es ist kein Zufall, dass mich gerade dieses Jahrhundert so fasziniert. Prinzessin Geheimnisvoll! Das rate ich meiner Tochter, aber selbst bin ich dazu nicht in der Lage.
Sie seufzte, nahm ihre Handtasche und die Schlüssel und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Erst als sie, den Kopf voller Alufolie, beim Friseur saß, nahm Joséphine ihre Gedanken wieder auf und vertraute sich Shirley an, die sich ihre jungenhafte Kurzhaarfrisur platinblond bleichen ließ.
»Ich sehe komisch aus, findest du nicht?«, fragte Jo, als sie ihren mit silbrigen Päckchen gespickten Kopf im Spiegel sah.
»Hast du dir noch nie Strähnen machen lassen?«
»Nein, nie.«
»Wenn es das erste Mal ist, darfst du dir jetzt was wünschen.«
»Ich wünsche mir, dass meine Töchter in ihrem Leben nicht zu viel Kummer erleiden«, flüsterte Jo ihrem Spiegelbild zu.
»Geht es um Hortense? Hat sie wieder zugeschlagen?«
»Nein, diesmal ist es Zoé … Sie hat Liebeskummer wegen Max Barthillet.«
»Der Liebeskummer unserer Kinder ist das Schlimmste für uns. Wir leiden genauso sehr wie sie und können doch nichts tun. Als Gary zum ersten Mal Liebeskummer hatte, dachte ich, ich würde sterben. Ich hätte das Mädchen erwürgen können.«
Joséphine erzählte ihr von der »Liste der verwertbaren Vaginas«. Shirley lachte laut auf.
»Ich finde das nicht lustig, sondern beunruhigend!«
»Sie hat dir doch davon erzählt, also ist es nicht mehr beunruhigend: Sie hat sich ihren Frust von der Seele geredet, und das ist wunderbar, sie vertraut dir. She trusts you! Sei lieber froh, dass deine Tochter dich liebt, statt über die verkommenen Sitten zu jammern. So ist das heutzutage nun mal, und so ist es überall. In allen Schichten, in allen Vierteln … Also trag die Sache mit Fassung und tu genau das, was du bisher getan hast: Sei für sie da, wenn sie dich braucht. Wir haben Glück, wir arbeiten beide zu Hause. Wir haben Gelegenheit, ihre Wehwehchen anzuhören und den Kurs zu korrigieren.«
»Du bist gar nicht schockiert?«
»Mich schockieren so viele Dinge, dass es mir den Atem verschlägt! Also habe ich beschlossen, alles positiv zu sehen, sonst werde ich noch verrückt.«
»Wir leben in einer verkehrten Welt, wenn fünfzehnjährige Bengel die Mädchen nach dem Zugang zu ihrer Vagina beurteilen.«
»Jetzt beruhige dich doch. Ich wette, der saubere Max Barthillet wird zu einem gefühlvollen Romantiker, wenn er sich erst einmal richtig verliebt. Und bis dahin spielt er sich eben als Chef auf und markiert den starken Mann! Halt Zoé eine Weile von ihm fern, und du wirst sehen, danach sind sie wieder einfach nur Freunde.«
»Ich will nicht, dass er sie bedrängt!«
»Er wird ihr nichts tun. Wenn er überhaupt etwas macht, dann mit einer anderen. Ich wette um alles, was du willst, dass er das nur getan hat, um Hortense zu beeindrucken! Die Jungs sind alle verrückt nach deinem kleinen Biest. Und mein Sohn vorneweg! Er glaubt, ich würde es nicht merken, aber er verschlingt sie mit Blicken!«
»Als ich noch klein war, war es das Gleiche mit Iris. Alle Jungen waren hinter ihr her.«
»Und wir sehen ja,
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