Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Schönen fährst!«
Ihr blieb nur noch eine halbe Stunde, um Zoé zum Reden zu bringen. Die Gelegenheit war günstig: Hortense war nicht zu Hause.
»Darf ich Baby spielen?«, bat Zoé und krabbelte auf den Schoß ihrer Mutter.
Jo zog sie zu sich hoch. Die gleichen vollen Wangen, das gleiche wirre Haar, der gleiche kleine, runde Bauch, die gleiche Tollpatschigkeit, die gleiche Frische, die gleiche Unsicherheit. Jo sah sich selbst als Kind auf alten Familienfotos. Ein kleines Mädchen in zu engem Pullover, das den Bauch nach vorn streckt und misstrauisch in die Kamera blickt.
»Mein Schatz, meine kleine Süße, ich hab dich so lieb«, murmelte sie, während sie sie an sich drückte. »Du weißt doch, dass ich immer, immer für dich da bin, oder?«
Zoé nickte und kuschelte sich an sie. Sie ist sicher traurig, dachte Jo, bald ist Weihnachten, und Antoine ist weit weg. Und sie traut sich nicht, mir davon zu erzählen. Die Mädchen sprachen nie über ihren Vater. Sie zeigten ihr die Briefe nicht, die er ihnen einmal pro Woche schickte. Manchmal rief er abends an. Es war immer Hortense, die abhob, dann gab sie das Telefon an Zoé weiter, die nur Ja und Nein stammelte. Es gab eine klare Trennung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter. Jo wiegte Zoé in ihren Armen und sang ihr zärtlich etwas vor.
»Ach, was ist mein kleines Baby groß geworden! Sie ist ja gar kein Baby mehr! Sie ist ein hübsches junges Mädchen mit schönen Haaren, einer schönen Nase, einem schönen Mund…«
Bei diesen Worten berührte sie flüchtig Zoés Haar, ihre Nase, ihren Mund und fuhr im gleichen Singsang fort: »Ein schönes junges Mädchen, in das sich bald alle Jungen unsterblich verlieben werden. Alle Jungen dieser Welt werden den Turm von Zoé Cortès bestürmen, um einen Kuss von ihr zu bekommen …«
Bei diesen Worten begann Zoé zu schluchzen. Joséphine beugte sich über sie.
»Was ist denn los, mein Spätzchen …?«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Erzähl mir, was dir solchen Kummer macht.«
»Das stimmt nicht, du lügst, ich bin kein schönes junges Mädchen, und kein einziger Junge will meinen Turm bestürmen!«
O weh, das ist es also, dachte Jo. Der erste Liebeskummer. Ich war damals auch zehn Jahre alt. Ich schmierte mir Johannisbeergelee auf die Wimpern, damit sie länger wurden. Und dann hat er doch Iris geküsst.
»Erstens, mein Schatz, sagt man niemals ›du lügst‹ zu seiner Mutter…«
Zoé nickte.
»Und zweitens lüge ich nicht, du bist ein sehr hübsches junges Mädchen.«
»Nein! Max Barthillet hat mich nicht auf seine Liste geschrieben.«
»Was denn für eine Liste?«
»Max Barthillet hat sie aufgestellt. Er ist schon groß und kennt sich aus. Er und Rémy Potiron haben eine Liste gemacht, und er hat mich nicht draufgeschrieben! Hortense schon, aber mich nicht.«
»Und was ist das für eine Liste, Liebes?«
»Eine Liste vaginal verwertbarer Mädchen, und ich stehe nicht drauf.«
Jo hätte Zoé um ein Haar von ihrem Schoß fallen lassen. Es war das erste Mal, dass eine ihrer Töchter mit einer Vagina in Verbindung gebracht wurde. Ihre Lippen begannen zu zittern, und sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, um das Beben zu unterdrücken.
»Weißt du denn auch, was das bedeutet?«
»Es bedeutet, dass man diese Mädchen bumsen kann! Das hat er mir gesagt…«
»Hat er dir das auch erklärt?«
»Ja, er hat gesagt, dass ich mich nicht so anstellen soll, weil ich ja irgendwann auch eine verwertbare Vagina haben werde … aber eben noch nicht jetzt.«
Zoé hatte einen Zipfel vom Ärmel ihres Sweatshirts in den Mund genommen und kaute mit schmerzlicher Miene darauf herum.
»Zunächst einmal, Liebes«, begann Joséphine und fragte sich, wie sie auf eine solche Beleidigung reagieren sollte, »stuft ein Junge Mädchen nicht entsprechend der Qualität ihrer Vagina ein. Ein sensibler Junge benutzt Mädchen nicht wie eine Ware.«
»Aber Max Barthillet ist mein Freund…«
»Dann musst du ihm sagen, dass du stolz darauf bist, nicht auf seiner Liste zu stehen.«
»Auch wenn das gelogen ist?«
»Was meinst du damit … gelogen?«
»Na ja … ich würde doch gern auf seiner Liste stehen.«
»Tatsächlich? Nun … dann sagst du ihm, dass es nicht sehr feinfühlig ist, Mädchen auf diese Weise einzustufen, dass man zwischen Männern und Frauen nicht von Vagina spricht, sondern von Begehren …«
»Was ist Begehren, Maman?«
»Das ist, wenn man in jemanden verliebt ist und ihn furchtbar gerne
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