Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Métro über die Schulter ihrer Nachbarinnen hinweg die Hälfte einer Diät, den Anfang eines Horoskops, linste auf das Foto einer Schauspielerin,
die sie mochte. Manchmal nahm sie auch eine Ausgabe, die jemand auf dem Sitz liegen gelassen hatte, mit nach Hause.
Sie schlug die Zeitschrift auf, blätterte die Seiten um und schrie auf.
»Shirley, Shirley, sieh nur!«
Sie stand auf, eilte zum Becken und schwenkte dabei die Zeitschrift.
Shirley hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen.
»Du siehst doch, dass ich jetzt nicht lesen kann«, sagte sie.
»Du brauchst dir nur das Foto anzusehen! Hier, die Parfümwerbung.«
Joséphine setzte sich auf den Stuhl neben Shirley und hielt ihr die Zeitschrift vor die Nase.
»Ja und?«, fragte Shirley und verzog das Gesicht. »Sie haben mir Schaum in die Augen gespült.«
Joséphine wedelte mit der Zeitschrift, und Shirley verdrehte den Kopf im Becken, um etwas zu erkennen.
»Siehst du den Mann auf dem Foto …?«
Shirley machte große Augen.
»Nicht übel! Wirklich nicht übel!«
»Ist das alles?«
»Ich hab doch gesagt, er sieht nicht übel aus … You want me to fall on my knees? «
»Das ist der Mann aus der Bibliothek, Shirley! Der Mann mit dem Dufflecoat! Er ist Model. Und das blonde Mädchen auf dem Bild ist die Frau vom Zebrastreifen. Sie haben gerade das Foto gemacht, als wir sie gesehen haben. Sieht er nicht gut aus? Sieht er nicht umwerfend gut aus?«
»Komisch, auf dem Zebrastreifen fand ich ihn gar nicht so beeindruckend …«
»Du magst ja auch keine Männer.«
»Sorry: Ich habe sie früher zu sehr gemocht, darum halte ich sie jetzt lieber auf Distanz.«
»Meinetwegen. Aber er ist schön, er lebt, und er macht Modefotos.«
»Und du fällst hier gleich noch in Ohnmacht!«
»Nein. Ich schneide das Foto aus und stecke es in mein Portemonnaie … O Shirley, das ist ein Zeichen!«
»Ein Zeichen wofür?«
»Ein Zeichen dafür, dass er in mein Leben zurückkehren wird.«
»Glaubst du wirklich an diesen Blödsinn?«
Jo nickte. Ja, und ich rede mit den Sternen, dachte sie, aber sie wagte nicht, das laut auszusprechen.
»Kommen Sie, Madame, jetzt sind Sie dran«, unterbrach Denise ihre Gedanken. »Sie werden sich nicht wiedererkennen …«
Und verglichen mit meiner Pracht wirkt selbst das leuchtend goldene Haar der blonden Isolde stumpf wie Stroh, dachte Joséphine, als sie am Becken Platz nahm.
Der große Zeiger der Wanduhr rückte vor auf halb sechs. Iris ertappte sich dabei, wie sie ängstlich zur Tür des Cafés hinüberstarrte. Und wenn er nicht kam? Wenn er in letzter Minute entschieden hatte, dass es die Mühe doch nicht wert war? Am Telefon hatte der Inhaber der Agentur einen höflichen, sachlichen Eindruck gemacht. »Ja, Madame, was kann ich für Sie tun …?«
Sie hatte ihm erklärt, was sie wollte. Er hatte ein paar zusätzliche Fragen gestellt und dann gesagt: »Kennen Sie unsere Tarife? Zweihundertvierzig Euro pro Tag unter der Woche, am Wochenende das Doppelte.«
»Nein, am Wochenende benötige ich Ihre Dienste nicht.«
»Sehr gut, Madame, wenn Sie einverstanden sind, können wir ein erstes Treffen vereinbaren … Sagen wir in einer Woche?«
»In einer Woche schon, sind Sie sicher …?
»Vollkommen, Madame … Das Treffen sollte am besten in einem Viertel stattfinden, in dem Sie üblicherweise nicht verkehren, damit sie nicht zufällig Bekannten über den Weg laufen.«
»Wie wäre es mit Gobelins?«, hatte Iris vorgeschlagen. Das klang geheimnisvoll, verboten, ein wenig zwielichtig sogar.
»Gobelins, Madame? Wie Sie wünschen. Sagen wir siebzehn Uhr dreißig im Café dieses Namens, Avenue des Gobelins, Höhe Rue Pirandello. Sie werden unseren Mann leicht erkennen. Er wird einen Regenhut von Burberry tragen, damit fällt er um diese Jahreszeit nicht
auf. Er wird sagen: ›Draußen ist es bitterkalt‹, und Sie antworten darauf: ›Sie sagen es.‹«
»Perfekt«, hatte Iris ungerührt erwidert. »Ich werde da sein, auf Wiederhören, Monsieur.«
So einfach war das also! Sie hatte so lange gezögert anzurufen, und jetzt ging auf einmal alles so schnell! Sie hatte ein Treffen verabredet.
Sie musterte die Menschen an den Tischen ringsum. Lesende Studenten, ein, zwei einzelne Frauen, die ebenfalls auf jemanden zu warten schienen. An der Theke standen Männer und tranken, den Blick in die Ferne gerichtet. Sie vernahm das Geräusch der Kaffeemaschine, gerufene Bestellungen, die Stimme von Philippe Bouvard,
Weitere Kostenlose Bücher