Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
noch klein. Er rannte hinter den Grauhörnchen her. Ich mag sie lieber, wenn sie weit weg sind, Mummy, aus der Nähe sehen sie aus wie Ratten. Bei mir ist es genau umgekehrt, hatte sie gedacht, ich liebe ihn, wenn er bei mir ist, aus der Ferne sehe ich, was er wirklich ist: eine Ratte. An jenem Tag war er nicht gekommen. Sie waren zu Fortnum and Mason gegangen und hatten Eis und Kuchen gegessen. Sie hatte Rauchtee getrunken und dabei die Augen geschlossen. Gary saß kerzengerade auf seinem Stuhl und probierte die Kuchen wie ein Feinschmecker mit der Spitze seiner Gabel. »Eine Haltung wie ein kleiner Prinz«, hatte die Kellnerin gesagt. Shirley war blass geworden. »Das war schön heute Nachmittag im Park«, hatte Gary gesagt und nach ihrer Hand gegriffen. »Green Park ist mein Lieblingspark.« Er kannte alle Parks in London.
Ein anderes Mal, als sie aufs Hotelzimmer gegangen war, hatte sich Gary mit den Rednern am Speaker’s Corner unterhalten. Da musste er ungefähr elf Jahre alt gewesen sein. Er sagte immer: »Lass dir Zeit, Mummy, mach dir keine Sorgen um mich, ich möchte so viel Englisch wie möglich sprechen, ich will meine Muttersprache nicht verlernen.« Er hatte mit einem schweigsamen Kerl, der auf seinem hohen Hocker saß und darauf wartete, dass ihn jemand ansprach, über die Existenz Gottes diskutiert. Der Mann hatte Gary gefragt: Wenn Gott tatsächlich existiert, warum lässt er die Menschen leiden? »Und was hast du geantwortet?«, hatte Shirley gefragt und den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen, um einen Knutschfleck zu verbergen. »Ich habe ihm von dem Film Die Nacht des Jägers erzählt, vom Kampf zwischen Gut und Böse, der Mensch muss sich entscheiden, und wie soll er eine Entscheidung treffen, wenn er das Leid und das Böse nicht kennt …«
»Das hast du gesagt?«, hatte Shirley hingerissen gefragt.
Sprich weiter, mein Liebling, hatte sie stumm gefleht, sprich weiter, damit ich dieses Zimmer und diesen Mann vergesse, damit ich vergesse, wie sehr ich mich vor mir selbst ekele, nachdem ich in seinen Armen gelegen habe. Er wartete immer im Zimmer auf sie. Lag mit Schuhen auf dem Bett. Las Zeitung. Er hatte sie wortlos angesehen. Hatte die Zeitung sinken lassen. Eine Hand an ihre Hüfte gelegt, ihren Rock hochgeschoben und …
Es war immer das Gleiche. Diesmal hatte sie nichts daran gehindert, seine Gefangene zu bleiben: Gary wartete nicht im Park. Sie hatte nicht gemerkt, wie die Stunden vergingen. Die Tage. Die Tabletts stapelten sich vor ihrem Bett. Wenn die Zimmermädchen an die Tür klopften, schickten sie sie weg.
Nie wieder, nie, nie wieder. Das musste endlich aufhören!
Sie musste sich von ihm fernhalten. Er spürte sie immer wieder auf. Er kam nie nach Frankreich, er stand unter Beobachtung und durfte die Grenze nicht überschreiten. In Frankreich war sie sicher. Aber zu Hause war sie ihm hilflos ausgeliefert. Es war ihre eigene Schuld. Sie schaffte es nicht, ihm zu widerstehen. Sie schämte sich jedes Mal, wenn sie zu ihrem Sohn zurückkehrte. Vertrauensvoll wartete er vor dem Hotel. Wenn es regnete, suchte er drinnen Schutz und wartete dort auf sie. Gemeinsam gingen sie zu Fuß zurück durch den Park.
»Glaubst du an Gott?«, hatte Gary eines Tages gefragt, nachdem er sich den ganzen Nachmittag mit einem neuen Redner im Hyde Park unterhalten hatte. Er hatte Gefallen daran gefunden. »Ich weiß es nicht«, hatte Shirley geantwortet, »ich würde so gern an ihn glauben …«
»Glaubst du an Gott?«, wollte Shirley von Joséphine wissen.
»Ja, schon …«, antwortete Joséphine, überrascht von ihrer Frage. »Ich rede abends mit ihm. Ich gehe nach draußen auf meinen Balkon, schaue hoch zu den Sternen und rede mit ihm. Das hilft mir sehr …«
»Poor you!«
»Ich weiß. Wenn ich das erzähle, halten mich die Leute für schwachsinnig. Also rede ich nicht darüber.«
»Ich glaube nicht an Gott, Joséphine … Versuch nicht, mich zu bekehren.«
»Das will ich auch gar nicht, Shirley. Du glaubst nicht an ihn aus Ärger darüber, dass die Welt nicht so ist, wie du sie gern hättest. Aber mit dem Glauben ist es wie mit der Liebe, es erfordert Mut zu lieben. Geben, immer nur geben, nicht nachdenken, nicht rechnen … Bei Gott muss man sich sagen ›ich glaube‹, dann wird alles vollkommen, alles wird logisch, alles bekommt einen Sinn, alles klärt sich auf.«
»Nicht für mich«, entgegnete Shirley mit einem bitteren Lachen. »Mein Leben ist eine Abfolge von Unvollkommenheiten,
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