Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Luft weg.
»Ich habe dich die ganze Woche über gehasst, Shirley! Die ganze Woche über hatte ich das Gefühl, als hättest du mir etwas genommen, als hättest du mich betrogen. Und trotzdem willst du mir nichts erklären. Aber Freundschaft ist keine Einbahnstraße!«
»Ich will dich doch nur beschützen. Wer nichts weiß, kann auch nichts sagen …«
Joséphine lachte bitter.
»Als ob mich jemand deinetwegen foltern würde.«
»Es kann gefährlich werden. So gefährlich, wie es für mich schon ist! Aber mir bleibt keine andere Wahl, ich muss damit leben, du nicht …«
Sie sprach in gleichmütigem Ton. Es war eine Feststellung. Joséphine hörte kein Pathos, keinen falschen Klang in ihrer Stimme. Shirley verkündete eine Tatsache, eine furchtbare Tatsache, ohne dass ihre Stimme dabei zitterte. Betroffen wich Joséphine zurück.
»So schlimm?«
Shirley setzte sich neben sie, legte einen Arm um ihre Schultern und begann leise zu reden.
»Hast du dich nie gefragt, warum ich hierher gezogen bin? In diese Gegend? In dieses Haus? Ganz allein, ohne Verwandte in Frankreich, ohne Mann, ohne Freunde, ohne einen richtigen Beruf?«
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Und genau deswegen liebe ich dich, Joséphine.«
»Weil ich so dumm bin? Weil ich nicht weiter sehe als bis zu meiner Nasenspitze?«
»Weil du nirgendwo Böses vermutest! Ich habe hier Zuflucht gesucht. An einem Ort, wo ich sicher sein konnte, dass mich niemand wiedererkennt, wo ich sicher sein konnte, dass mich niemand hier suchen und aufspüren würde. Zu Hause lebte ich, ich hatte ein aufregendes, schönes Leben, bis … bis etwas vorgefallen ist. Hier schlage ich mich so durch, ich überlebe, mehr nicht …«
»Und worauf wartest du?
»Ich weiß es nicht. Vielleicht darauf, dass sich das Problem in meiner Heimat löst … Dass ich nach Hause zurückkehren und wieder ein normales Leben führen kann. Als ich hierher gezogen bin, bin ich ein anderer Mensch geworden, ich habe meinen Namen geändert, ich habe mein Leben geändert. Hier kann ich Gary aufziehen, ohne vor Angst zu zittern, wenn er zu spät aus der Schule kommt, ich kann nach draußen gehen, ohne mich ständig umschauen zu müssen, ohne mich zu fragen, ob ich verfolgt werde, ich kann schlafen, ohne fürchten zu müssen, dass jemand meine Tür eintritt …«
»Hast du dir deshalb die Haare so kurz schneiden lassen? Läufst du deshalb wie ein Mann? Und kämpfst wie ein Mann?«
Shirley nickte.
»Das habe ich alles gelernt. Ich habe gelernt zu kämpfen, ich habe gelernt, mich zu verteidigen, ich habe gelernt, allein zu leben …«
»Weiß Gary Bescheid?«
»Ich habe ihm alles erzählt. Es blieb mir nichts anderes übrig. Er hatte vieles schon vorher verstanden, und ich musste ihn beruhigen. Ihm sagen, dass er sich nicht irrte. Das hat ihn sehr viel reifer, sehr viel erwachsener werden lassen … Er hat es verkraftet. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass er mich beschützt!«
Shirley verstärkte den Druck um Joséphines Schultern.
»Und trotz dieser Tragödie habe ich hier eine Art Glück gefunden. Ein friedliches Glück, ohne Mätzchen oder Erschütterungen. Ohne Mann …«
Sie erschauerte. Ohne »diesen« Mann hätte sie beinahe gesagt. Sie hatte ihn wiedergesehen. Seinetwegen hatte sie ihren Aufenthalt in London verlängert. Er hatte angerufen, hatte ihr die Nummer seines Zimmers im Park Lane Hotel gegeben und gesagt: »Ich warte auf dich, Zimmer 616.« Er hatte aufgelegt, ohne ihre Antwort abzuwarten. Sie hatte das Telefon angestarrt und sich gesagt, ich gehe nicht, ich gehe nicht, ich gehe nicht. Dann war sie zum Picadilly hinübergerannt, ins Park Lane Hotel gegenüber vom Green Park, in der Nähe des Buckingham Palace. Die große, in Beige und Rosa gehaltene Lobby, die venezianischen Kronleuchter, verziert mit mundgeblasenen gläsernen Trauben. Die Sofas, auf denen Geschäftsleute Tee tranken und sich dabei mit gedämpfter Stimme unterhielten. Die riesigen Blumengestecke. Die Bar. Der Aufzug. Der lange Flur mit den beigefarbenen Wänden, dem hochflorigen Teppich, den Wandleuchten mit kleinen runden Schirmen. Zimmer 616 … Die Umgebung glitt vorbei wie in einem Film. Er verabredete sich immer mit ihr in Hotels, die an einem Park lagen. »Lass den Kleinen auf dem Rasen und komm rauf zu mir. Da unten kann er die Pärchen beobachten und die Grauhörnchen. Da lernt er etwas über das Leben.« Einmal hatte sie den ganzen Tag auf ihn gewartet. Im Green Park. Gary war
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