Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
diesem früheren Leben hatte auch das Begehren seinen Platz gehabt, jene »geheimnisvolle Macht unterhalb der Dinge«. Sie liebte diese Worte von Alfred de Musset! Das Begehren, das die Haut leuchten und die Berührung einer anderen Haut herbeisehnen lässt, von der man nicht das Geringste weiß. Man ist einander vertraut,
noch bevor man sich kennt. Man kann nicht mehr ohne den Blick des anderen sein, ohne sein Lächeln, seine Berührung, seine Lippen. Man verliert den Verstand. Man wird verrückt. Man ist bereit, ihm ans Ende der Welt zu folgen, und der Verstand fragt: Was weißt du denn von ihm? Nichts, nichts, gestern noch kannte ich nicht einmal seinen Vornamen. Welch hübsche List hat sich die Natur doch für den Menschen einfallen lassen, der sich selbst so stark wähnt! So verhöhnen die Sinne das Gehirn! Das Begehren schleicht sich in die Neuronen und verwirrt sie. Man liegt in Ketten, ist gefangen. Zumindest im Bett …
Jenem letzten Hort des primitiven Lebens …
Es gibt keine sexuelle Gleichberechtigung. Wir können nicht gleichberechtigt sein, denn wir werden wieder zu Wilden. Das animalische Weib unter dem animalischen Mann. Was hat Joséphine neulich gesagt? Sie hat vom Wahlspruch bei Hochzeiten im zwölften Jahrhundert erzählt, und das hat mich erschauern lassen. Ich ließ sie wie üblich reden, ohne wirklich zuzuhören, und plötzlich war es, als schlüge sie mir mit einer Axt zwischen die Beine.
Gabor, Gabor …
Seine riesenhafte Gestalt, seine langen Beine, sein raues Englisch. Iris, please, listen to me … Iris, I love you, and it’s not for fun, it’s for real, Iris…
Wie er Iris sagte. Für sie klang es wie Irish …
Sein gerolltes R entfachte in ihr den Wunsch, sich unter seinem Körper zu wälzen.
»Mit ihm und unter ihm.« Das war der Wahlspruch einer Hochzeit im zwölften Jahrhundert!
Mit Gabor und unter Gabor …
Gabor wunderte sich, wenn ich mich ihm entzog, wenn ich mich weiter als emanzipierte Frau gebärden wollte. Er lachte das laute Lachen eines Mannes aus den Wäldern. »Du willst Leidenschaft ausschließen? Beherrschung? Unterwerfung? Aber das ist es doch, was den Funken zwischen uns beiden entzündet. Arme Irre, schau nur, was aus diesen amerikanischen Feministinnen geworden ist: einsame Frauen. Einsam! Und das, Iris, ist das größte Elend einer Frau…«
Sie fragte sich, was aus diesem Mann geworden war. Manchmal
träumte sie beim Einschlafen, dass er an ihrer Tür klingelte und sie sich in seine Arme warf. Sie ließ alles stehen und liegen, die Kaschmirschals, die Stiche, die Zeichnungen, die Gemälde. Sie ging mit ihm, hinaus in eine ungewisse Zukunft …
Doch dann … bohrten sich unweigerlich zwei kleine Zahlen durch die Oberfläche ihres Traums. Zwei leuchtend rote Krebse, deren Scheren die einen Spalt weit offen stehende Tür ihrer Fantasie mit schweren Riegeln wieder verschlossen: 44. Sie war vierundvierzig Jahre alt.
Ihr Traum zersplitterte. Zu spät, höhnten die Krebse und schwenkten ihre Vorhängeschlosszangen. Zu spät, dachte sie. Sie war verheiratet, sie würde verheiratet bleiben! Das war ihre feste Absicht.
Trotzdem würde sie sich absichern müssen. Für den Fall, dass ihr Ehemann von seiner Leidenschaft überwältigt wurde und mit diesem jungen Kerl in schwarzer Robe durchbrannte! Darüber musste sie sich Gedanken machen.
Aber das Wichtigste war jetzt, einfach abzuwarten.
Sie nippte erneut an dem Whisky, den Carmen ihr gebracht hatte, und seufzte. Heute Abend schon würde sie damit anfangen müssen, den Schein zu wahren …
Erleichtert stellte Joséphine fest, dass es ihr erspart blieb, mit dem Bus zu ihrer Schwester zu fahren, denn das hätte zweimal Umsteigen bedeutet. Antoine hatte ihr das Auto dagelassen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich hinters Steuer zu setzen. Sie musste einen Code eingeben, um das Garagentor zu öffnen. Da sie ihn niemals benutzte, tastete sie in ihrer Handtasche nach dem Kalender, in dem sie die Zahlenfolge notiert hatte.
»2513«, murmelte Hortense, die neben ihr saß.
»Danke, Liebes …«
Am Abend zuvor hatte Antoine angerufen; er hatte mit den Mädchen geredet. Erst mit Zoé, dann mit Hortense. Nachdem Zoé das Telefon weggelegt hatte, war sie zu ihrer Mutter gekommen, die auf ihrem Bett lag und las. Daumenlutschend hatte sie sich an sie geschmiegt und Nestor, ihr Kuscheltier, unters Kinn geklemmt. So waren sie eine ganze Weile schweigend liegen geblieben, dann hatte Zoé geseufzt. »Es
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