Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
gibt so viele Sachen, die ich nicht verstehe, Maman,
das Leben ist ja noch komplizierter als die Schule…« Am liebsten hätte Joséphine ihr gestanden, dass sie das Leben auch nicht mehr verstand. Aber sie hatte sich auf die Zunge gebissen. »Erzähl mir die Geschichte von der Königin, Maman«, hatte Zoé verlangt und sich dabei eng an sie gedrückt. »Du weißt schon, von der, der niemals kalt war, die niemals Hunger hatte, die niemals Angst hatte, die ihr Königreich gegen Horden von Soldaten verteidigte und die die Mutter von Prinzen und Prinzessinnen war. Erzähl mir noch einmal, wie sie zwei Könige heiratete und nacheinander über zwei Länder herrschte …« Zoé liebte die Geschichte der Eleonore von Aquitanien über alles. »Von Anfang an?«, hatte Joséphine gefragt. »Erzähl mir von ihrer ersten Hochzeit«, hatte Zoé mit dem Daumen im Mund geantwortet, »erzähl mir von dem Tag, als sie fünfzehn Jahre alt war und Ludwig VII., den König von Frankreich, geheiratet hat … Fang mit dem Thymian- und Rosmarinbad an, du weißt schon, das ihre Dienerin bereitet, indem sie große Kannen mit heißem Wasser in die hölzerne Wanne gießt. Erzähl mir von der Weizenpaste, mit der sie ihr Gesicht einreibt, um hübsch auszusehen und ihre kleinen Pickel zu verstecken … Und von den frischen Kräutern, die um die Wanne herum verteilt werden, damit sie den Holzboden nicht nass macht! Erzähl, Maman, erzähl!«
Joséphine hatte zu erzählen begonnen, und der Zauber der Worte hatte sich auf das Zimmer herabgesenkt wie ein Weihnachtsmärchen: »An jenem Tag war ganz Bordeaux in festlicher Stimmung. Ludwig VII., Erbe der französischen Krone, hatte am Ufer des Flusses sein Zeltlager aufgeschlagen und wartete in Begleitung seiner Edelleute, seiner Diener und seiner Knappen unter den wehenden Bannern darauf, dass seine Verlobte Eleonore im Château de l’Ombrière ihre Vorbereitungen abschloss.« Dann wandte sie sich den Einzelheiten von Eleonores Bad zu, den Kräutern, den Salben, den Parfüms, die ihr ihre Kammerfrauen und Hofdamen reichten, um sie zur schönsten Frau von ganz Aquitanien zu machen. Nachdem Joséphine genug Details geschildert hatte, um Zoés Fantasie anzuregen, spürte sie das Gewicht des Mädchens auf ihrem Arm und sprach noch ein paar Minuten weiter. »Wir sind im Juli des Jahres 1137, und die Sonne taucht die Mauern der Burg in farbiges Licht. Die Hochzeitsfeier soll mehrere
Tage und Nächte dauern, wie es damals üblich war, und Ludwig, der an der Seite des wunderschönen Mädchens im scharlachroten Kleid mit den langen, geschlitzten, hermelinbesetzten Ärmeln saß, wirkte wie ein sehr schmächtiger, ein sehr junger und sehr verliebter König inmitten der Feuerschlucker, der Trommler und Tamburinspieler, der Bärenführer, der Jongleure und der Pagen, die den Wein einschenkten und die Teller mit gebratenem Fleisch füllten, das beinahe kalt auf den Tisch kam, da die Küchen zu jener Zeit sehr weit von den Festsälen entfernt lagen. Schön und duftig aussehend, sang Eleonore leise das Lied vor sich hin, das ihre Amme ihr anlässlich ihrer Hochzeit beigebracht hatte:
Mein Herz gehört Euch,
Mein Leib gehört Euch.
Als das Herz sich versprach,
Folgte der Leib ihm nach.
Sie wiederholte diese Zeilen mehrmals wie ein Nachtgebet und nahm sich vor, eine vollkommene Königin zu werden, eine gerechte, gute und sanfte Königin für all ihre Untertanen.«
Joséphine hatte immer leiser gesprochen, bis ihre Stimme nur noch ein Flüstern war, und das Gewicht ihrer Tochter, die immer schwerer an ihrer Brust lag, verriet ihr, dass das Kind eingeschlafen war und sie jetzt aufhören konnte, ohne sie zu wecken.
Hortense hatte noch lange mit ihrem Vater gesprochen, dann hatte sie aufgelegt, war ins Bett gegangen und hatte das Licht gelöscht, ohne noch einmal zu ihr zu kommen und ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Joséphine hatte ihr Bedürfnis, allein zu sein, respektiert.
»Weißt du, wie wir zu Iris kommen?«, fragte Hortense und klappte die Sonnenblende herunter, um einen prüfenden Blick auf ihre Zähne und ihre Frisur zu werfen.
»Hast du dich geschminkt?«, entgegnete Joséphine, als sie die glänzenden Lippen ihrer Tochter bemerkte.
»Ein bisschen Lipgloss von einer Freundin … Das würde ich nicht gerade Schminken nennen. Lediglich ein Mindestmaß an Höflichkeit den anderen gegenüber.«
Joséphine ignorierte ihre unverschämte Antwort und zog es vor, sich darauf zu konzentrieren, wie sie
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