Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Selbstvertrauen, kein Vergleich mit der Joséphine, die sie kannte! Iris betrachtete sie neidisch. Es war nur ein flüchtiges Aufblitzen, im gleichen Moment auch schon wieder verschwunden, doch Jo hatte es gesehen.
»Komm zurück auf den Boden, Jo. Für François Villon interessiert sich doch kein Mensch!«
Joséphine verstummte.
»Ich wollte dir nur helfen«, sagte sie mit einem Seufzen.
»Ich weiß, das ist auch lieb von dir … Du bist lieb, Jo. Völlig daneben, aber lieb!«
Und wieder zurück auf Los, dachte Joséphine. Ich bin wieder das ahnungslose Schaf… Dabei wollte ich ihr doch nur helfen. Was soll’s!
Pech für sie.
Und trotzdem war da dieser Neid, dieser Hauch von Eifersucht in Iris’ Stimme gewesen. Sie war sich ganz sicher. Zweimal innerhalb weniger Sekunden! So jämmerlich kann ich gar nicht sein, wenn sie mich beneidet, dachte sie und richtete sich auf, so jämmerlich nicht … Und außerdem habe ich keinen Apfelkuchen bestellt. Ich habe schon mindestens hundert Gramm abgenommen!
Triumphierend sah sie sich um. Sie beneidet mich, sie beneidet mich! Ich habe etwas, was sie nicht hat und was sie gerne hätte! Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, ein Funkeln in ihrem Blick, ein winziger Misston in ihrer Stimme. Und mir sind dieser ganze Luxus, diese Palmen in Töpfen, diese weißen Marmorwände, diese schimmernden bläulichen Reflexe, diese Frauen in weißen Bademänteln, die sich strecken und ihre Armbänder funkeln lassen, vollkommen egal. Ich würde mein Leben gegen kein anderes der Welt eintauschen. Versetzt mich zurück ins zehnte, elfte, zwölfte Jahrhundert! Dann lebe ich auf, meine Wangen bekommen Farbe, ich richte mich auf, schwinge mich ohne Sattel hinter Rollo den Riesen aufs Pferd, klammere mich an ihm fest und reite mit ihm davon … Ich kämpfe Seite an Seite mit ihm an den normannischen Küsten,
ich dehne die Grenzen seines Reichs aus bis an die Bucht des Mont-Saint-Michel, ich adoptiere seinen Sohn, ich erziehe ihn, und er wird zu einem der Ahnen von Wilhelm dem Eroberer!
Sie hörte die Posaunen, die bei Wilhelms Krönung erschallten, und ihre Wangen röteten sich.
Oder …
Ich bin Arlette, Wilhelms Mutter … Ich wasche meine Wäsche am Brunnen in Falaise, als Rollos Nachfahre Robert mich sieht, mich entführt, mich heiratet und mich schwängert! Von der einfachen Wäscherin steige ich auf in einen Rang, der fast dem einer Königin gleichkommt.
Oder …
Sie raffte den Saum ihres Bademantels, als wäre es ein Unterrock. Ich bin Mathilde, Tochter Balduins, des Grafen von Flandern, Wilhelms Ehefrau. Ich mag Mathildes Geschichte, sie ist romantischer. Mathilde liebte Wilhelm bis zu seinem Tod! Das war selten in jener Zeit. Und er liebte sie. Um Gott für ihre Liebe zu danken, ließen sie vor den Toren von Caen zwei große Abteien errichten, die Abbaye aux Hommes und die Abbaye aux Dames.
Ich wüsste, welche Geschichten ich erzählen würde, wenn ein Verleger mich darum bitten sollte. Dutzende, Tausende Geschichten! Ich könnte den Schall der Trompeten beschreiben, die galoppierenden Pferde, den Kampfschweiß, das Zittern der Lippen vor dem ersten Kuss … »Süßer Schmelz der Küsse, jener verlockenden Reize der Liebe.«
Joséphine erschauerte. Sie hätte am liebsten gleich ihre Arbeitshefte aufgeschlagen, ihre Notizen durchsucht, wäre eingetaucht in die wunderbare Geschichte jener Jahrhunderte, die sie so liebte.
Sie schaute auf die Uhr und entschied, dass es Zeit wurde, nach Hause zu fahren. »Auf mich wartet noch Arbeit…«, sagte sie zum Abschied. Iris hob den Kopf und antwortete mit einem trübsinnigen: »Ach ja?«
»Ich sammle die Mädchen auf dem Weg nach draußen ein … bleib du ruhig sitzen. Und danke für alles!«
Sie konnte es kaum erwarten fortzukommen. Diesen Ort zu verlassen, an dem ihr plötzlich alles falsch und hohl erschien.
»Kommt, ihr zwei! Wir fahren nach Hause! Keine Widerrede!«
Hortense und Zoé gehorchten sofort, stiegen aus dem Becken und begleiteten sie zu den Umkleidekabinen. Joséphine hatte das Gefühl, zehn Zentimeter zu wachsen. Sie tanzte auf den Zehenspitzen, schritt erhaben über den dicken, blütenweißen Teppichboden und ließ den Blick über die Spiegel gleiten, die ihr Bild zurückwarfen. Pah! Ein paar Kilo weniger, und ich sehe fantastisch aus! Pah! Iris hat mein Wissen benutzt, um bei einem Pariser Dîner zu glänzen! Pah! Tausend Seiten dicke Bücher könnte ich schreiben, wenn mich jemand dazu
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