Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
verblüfft, als entdecke sie hinter der stolzen, entschlossenen Frau, die sie kannte, einen ganz neuen Menschen. Iris hatte den Kopf gesenkt und zerteilte ihren
Apfelkuchen in kleine, gleichmäßige Stückchen, die sie anschließend an den Rand ihres Tellers schob. Kein Wunder, dass sie nicht zunimmt, wenn sie immer so isst, dachte Joséphine.
»Du findest mich lächerlich, was?«, sagte Iris. »Na los, gib es schon zu. Und du hättest recht damit.«
»Nein, nein … Ich bin nur überrascht. Du musst zugeben, dass man so etwas von dir nicht erwarten würde …«
»Na und? Dann ist es eben überraschend, aber lass uns jetzt keinen Staatsakt daraus machen. Ich komme aus dieser Sache schon wieder raus. Ich erzähle irgendwas. Wäre ja nicht das erste Mal!«
Joséphine zuckte unwillkürlich zurück.
»Was meinst du damit? Nicht das erste Mal … dass du lügst?«
Iris lachte höhnisch.
»Dass ich lüge? Wie pathetisch! Hortense hat recht. Du bist wirklich naiv, du armes Ding. Du hast keine Ahnung vom wahren Leben. Oder dein Leben ist so schlicht, dass es einem Angst machen muss … Für dich gibt es nur Gut und Böse, Schwarz und Weiß, gute Menschen und schlechte Menschen, Tugend und Laster. So ist es ja auch viel einfacher! Man weiß immer gleich, woran man ist.«
Verletzt schlug Joséphine die Augen nieder. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Aber sie brauchte gar nichts zu erwidern, denn Iris fuhr gehässig fort: »Nicht das erste Mal, dass ich in der Scheiße sitze, du dummes Huhn!«
Boshafter Spott klang aus ihrer Stimme. Verachtung, und auch Ärger. Diesen feindseligen Ton hatte Joséphine bei ihrer Schwester noch nie gehört. Aber was sie noch mehr aufhorchen ließ, war der Hauch von Eifersucht, den sie herauszuhören glaubte. Unmerklich, kaum wahrnehmbar, eine Note, die ein wenig unsauber klingt und sofort korrigiert wird … trotzdem war sie da. Iris war eifersüchtig auf sie? Unmöglich, dachte Joséphine. Unmöglich! Schuldbewusst versuchte sie, ihren Mangel an Loyalität wiedergutzumachen.
»Ich werde dir helfen! Ich finde schon eine Geschichte, die du erzählen kannst … Wenn du deinen Verleger das nächste Mal siehst, wirst du ihn mit deinen Kenntnissen über das Mittelalter begeistern.«
»Ach ja? Und wie soll ich das bitte schön anstellen?«, fragte Iris sarkastisch und zerquetschte ihren Kuchen mit der Gabel.
Sie hat nicht einen Bissen gegessen, dachte Jo. Sie hat ihn in Stückchen zerlegt und auf dem Teller verteilt. Sie isst nicht, sie massakriert die Nahrung.
»Wie soll ich einen so gebildeten Mann mit meiner geballten Ahnungslosigkeit begeistern?«
»Hör mir einfach zu! Du kennst doch die Geschichte von Rollo, dem Normannenherrscher, der so groß war, dass seine Füße beim Reiten über den Boden schleiften?«
»Nie von ihm gehört.«
»Er war ein unermüdlicher Wanderer und großer Seefahrer. Er stammte aus Norwegen und verbreitete Furcht und Schrecken. Er behauptete, nur im Kampf gefallene Krieger kämen ins Paradies. Das sagt dir gar nichts? Um eine Figur wie ihn kannst du eine ganze Geschichte spinnen. Er war der Gründer der Normandie!«
Iris zuckte mit den Schultern und seufzte.
»Damit käme ich nicht weit. Ich habe nicht die geringste Ahnung von dieser Zeit.«
»Oder du könntest ihm erzählen, dass der Titel des Romans Vom Winde verweht , du weißt schon, das Buch von Margaret Mitchell, einem Gedicht von François Villon entnommen ist …«
»Aha…«
» Das alles trägt hinweg der Wind … diese Zeile stammt aus einer Ballade von François Villon.«
Joséphine hätte alles getan, um wieder ein Lächeln auf das feindselige, verschlossene Gesicht ihrer Schwester zu locken. Sie hätte Purzelbäume geschlagen oder sich den zerbröselten Apfelkuchen über den Kopf geschüttet, damit Iris ihr Lächeln wiederfände, ihre Augen sich mit reinem Blau füllten und dieses Tintenschwarz verschwände, das sie nun trübte. Sie streckte den Ärmel ihres weißen Bademantels aus wie ein römischer Tribun bei einer feierlichen Ansprache an das Volk und deklamierte:
Auch Fürsten sind dem Tod geweiht,
Wie alle, die ich lebend find;
Sind sie voll Zorn auch drum und Leid,
Das alles trägt hinweg der Wind…
Iris lächelte schwach und sah sie neugierig an.
Joséphine war wie verwandelt. Ein sanftes Leuchten ging von ihr aus und umgab sie mit einem undefinierbaren Reiz. Plötzlich war sie ein ganz anderer Mensch, belesen und sicher, ruhig und voller
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