Die gelehrige Schuelerin
jeden Fall möchte ich dir für Samstag danken. Mit mir ist etwas geschehen, das ich mir noch nicht so richtig erklären kann, aber es ist etwas Besonderes. Ich nehme an, dass ich Dinge gefühlt habe, die ich noch nie zuvor erlebt habe.
Ich finde dich wundervoll, wenn du ernsthaft wirst, und wunderschön, wenn du intensive Augenblicke erlebst (nie werde ich deinen Gesichtsausdruck vergessen, als du zum erstenmal das Wasser gesehen hast). Aber wenn du spielst, bist du schrecklich. Ich werde das akzeptieren. Ich weiß, dass ich alles andere als perfekt bin.
Ich möchte alles mit dir teilen.
In Liebe
Annie
P.S. Mach dir keine Gedanken wegen Clara. Ich habe ihr eigentlich gar nichts erzählt, aber sie ist auch nicht dumm. Sie ist eine gute Freundin und lange nicht so quengelig, wie sie aussieht. Geheimnisse.
Glasklar. Keine Verzerrungen, keine Unsicherheit oder Angst davor, zurückgestoßen zu werden.
Ich habe schon manche Liebesbriefe erhalten, die von weltbewegenden Gefühlen sprachen wie kitschige Weihnachtspostkarten. Aber Annies Brief war real. So aufrichtig. Sie wollte schenken. Sie wollte mich haben. Sie wollte mit mir teilen. Ihre Zeichnung von den beiden Sonnen war so unaffektiert, dass sie sich sicher keine Gedanken darüber gemacht hatte, ob ich sie auch leiden mögen würde. Sie hatte sie einfach zeichnen müssen, um mir zu zeigen, dass sie mit mir Sonne und Regen teilen wollte. Dann wieder
Geheimnisse.
Die in Annie verborgene Kindlichkeit hatte Sehnsucht nach Geheimnissen, so als würden wir zusammen in einem Häuserblock leben und deshalb dick befreundet sein. Aber seltsamerweise hatte ich auch das Bedürfnis, Geheimnisse weiterzugeben. In meiner Brust rumorten so viele Heimlichkeiten, die nur auf jemanden warteten, der sie losband und ans Licht brachte.
Ich musste meine Einsamkeit mit jemandem teilen.
Doch ich konnte kein Verhältnis mit einem Kind anfangen, das ich normalerweise zurechtwies, wenn es anderen Leuten mit einem Gummiband Papierkügelchen an den Kopf schoss.
Während der ganzen nächsten Woche sah Annie, die wieder in die Schule gekommen war, mich kein einziges Mal an. Sie schrieb auch keine weiteren Liebesbriefe. Sie rief nicht an und wollte nichts von mir. Wie vorher war sie dieselbe, unbeteiligte Schülerin. Einmal kicherte sie zusammen mit Clara, als sie aus dem Klassenzimmer gingen. Sie konnte überleben.
Aber konnte ich das auch?
In der Schule gelang es mir, den autoritativen Lehrer zu spielen, aber zu Hause hörte ich immer nur meine eigenen, schlurfenden Schritte in einer leeren Wohnung. Immer noch war ich mir sicher, dass jemand die falsche Nummer gewählt hatte, wenn bei mir mal das Telefon klingelte. Und ständig gingen mir die Bilder von Annie und mir beim Liebemachen durch den Kopf, der dankbare Ausdruck in ihren Augen, der Zeitpunkt, an dem wir beide exakt gleichzeitig gekommen waren, das gute Gefühl, dass ich jemanden befriedigt hatte. Ich verfluchte mich selbst, dass ich mir diese Chance entgehen ließ, aus der Depression zu fliehen. Jetzt hatte ich die Möglichkeit, mein Leben mit einem anderen zu teilen. Ich masturbierte oft – dann brauchte ich mir den Kopf wenigstens nicht über die psychischen Probleme, sondern nur über meinen Schwanz zu zerbrechen.
Playboy
ekelte mich an. Ich wollte einen wirklichen Menschen. Annie war wirklich. Ich war beschissen. Ich warf alle Magazine weg. Dann konnte ich mich nicht mehr selbst befriedigen. Ich brauchte jemanden. Annie? Mal im Licht, dann wieder im Schatten, mal oben, mal unten, mal wollte ich, dann wieder nicht, ich wusste weder ein noch aus. War der Weg aus diesem Traum wirklich die Konsequenzen wert, die ein Verhältnis mit einer Sechzehnjährigen beinhaltete?
Am Samstag zwang ich mich, nachts in die
Salem
-Disco zu gehen. Ich hasste es, allein zu Hause zu bleiben, wenn jedermann ausging, wenn ich allein ausgehen musste, während alle anderen außer mir einen Partner hatten. Meine gewöhnliche Depression verdoppelte sich, und ich war mir sicher, dass ich durch meine exzessive Unentschlossenheit in Verbindung mit den romantischen Spielfilmen im Fernsehen langsam zu einem Vollidioten wurde. Der Krach würde mein Grübeln ertränken. Vielleicht würde es ja niemandem auffallen, dass ich allein war. Ich könnte vergessen.
Aber Diskotheken widerten mich an. Sie waren eine schillernde Anhäufung unechter Eitelkeiten. Möchte-gern-und-kann-nicht-Leute, keiner war real. Jeder suchte, wollte, wünschte, und niemand bekam
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