Die gelehrige Schuelerin
irgendeiner trickreichen Frage vor mir. Ich wünschte, du könntest in der Klasse genauso sein, wie du mit mir zusammen bist. Ich meine, du handelst mir gegenüber ja auch oft wie ein Lehrer – hilfst mir, zeigst mir neue Welten –, aber ohne diese falsche Abgehobenheit. Wäre es so schlimm, seine Macht zu verlieren?«
»Nein. Es braucht bloß eine Zeit der Gewöhnung.« Wir fuhren an einem Supermarkt vorbei, vor dem eine Mutter ihr Kind schlug. »Ich brauche mehr echtes Selbstvertrauen, anstelle des falschen Selbstvertrauens, das ich durch diese autoritative Haltung gewinne. Du hilfst mir dabei.« Ich hielt einen Augenblick inne. »Weißt du, wann ich mich noch stark fühle? Wenn ich vor jemandem aufwache. Etwas in diesen Minuten, wenn der andere nicht weiß, was vor sich geht, gibt mir Sicherheit. Und ich mag es gar nicht, wenn ich derjenige bin, der zu lange schläft.«
»Lass uns immer zusammen aufwachen.«
Die untergehende Sonne verbreitete ein goldenes Licht. Annie hatte Khakihosen an. Dazu trug sie einen ausgebeulten Rollkragenpullover und die übliche Lederjacke, von der sie sich nie zu trennen schien. Ich fühlte mich in meinen Jeans und dem weichen Hemd, dessen Kragen über einen legeren Pullover rausragte, wohl. Über den Rücksitz hatte ich eine leichte, wollene Marinejacke geworfen.
»Zeit für ›Geheimnisse‹!«, sagte Annie.
»Okay, aber diesmal bist du dran. Meine Schwulenerfahrung dürfte kaum zu überbieten sein.«
Ohne Luft zu holen, fing Annie an. »Mein Vater hat uns verlassen, weil ich ihn verführt hatte.« Ich riss die Augen auf, sagte aber nichts. »Wir haben uns so sehr geliebt, ich schien nie genug Zuwendung von ihm kriegen zu können. Ich war immer auf Mom eifersüchtig. Ich hasste es, wenn sie sich in ihrem Schlafzimmer einschlossen. Aber weißt du, ich glaube, sie war auch auf mich eifersüchtig. Dad brachte mir immer kleine Geschenke mit, sah mit mir zusammen fern, ließ mich auf seinem Rücken reiten. Wenn er nicht mit mir zusammen war, ging er gewöhnlich fischen, oder zum Bowling, oder zu einem Footballspiel. Mom und er schienen mehr aus Gewohnheit miteinander zu leben. Es war keine Liebesehe. Ich glaube, sie waren beide sehr einsam. Ihr Ehebett stand schon lange getrennt im Zimmer. Und ich habe die ganze Sache wohl geplant.« Sie sah aus dem Fenster und sammelte neue Kraft. »Weißt du, wie das ist, wenn jeder denkt, du wärest noch ganz klein und hättest überhaupt keine Ahnung von den Dingen, aber in Wirklichkeit weißt du schon, was vor sich geht, und du fühlst dich sogar noch ganz schlau, weil du die anderen in dem Glauben lässt, du wüsstest nichts, obwohl du es besser weißt? … Ich glaube, ich habe sehr genau gewusst, was ich tat.« Ich hörte Schmerz in ihrer Stimme. »Mein Vater hat oft mit mir gerauft. Er rollte mich über den Boden, warf mich dann hoch über seinen Kopf und fing mich weich mit seinen breiten Schultern wieder auf. Er hatte riesige Muskelhügel an den Oberarmen, und er erzählte mir immer, dass sie aus Stahl wären. Ich glaubte ihm. Als ich älter wurde, hörte er auf, mit mir herumzutoben, und ich war sauer. Manchmal stolzierte ich auf ihn zu, verwuschelte ihm die Haare mit meinen Fingern und zog ihn an den großen Ohrläppchen. Dann war er wieder der alte Daddy. Ich lachte. Er lachte. Ich tat so, als fiele ich in Ohnmacht und fühlte mich so wunderbar hilflos, wenn er mich mit seinen Stahlarmen umfasste und an der Hüfte wieder in die Luft zog. Aber das geschah nicht mehr so oft, wie ich es gern gehabt hätte. Ich bemerkte eine Veränderung in seinem Blick, wenn er mich ansah. Wenn ich ihm den Rücken zukehrte und wegging, spürte ich, wie seine Augen mir folgten. Ich wollte seine Aufmerksamkeit. Ich brauchte sie so.« Sie schloss eine Weile die Augen. »Es war an irgendeinem Tag. Sonntag. Dad war zu Hause und sah sich ein Footballspiel im Fernsehen an. Ich hatte Langeweile. Hatte auch keine Lust, meine Spielkameraden anzurufen oder im Regen spazieren zu gehen. ›Ich hab dich lieb, Daddy!‹, rief ich quer durchs Zimmer. ›Ich hab dich auch lieb, Kleines!‹, rief er zurück. Aber ich wusste, dass er dabei nur an Football dachte. Ich ging zu ihm hinüber und begann, mit seinen Haaren zu spielen. Dann umarmte ich ihn von hinten, und gab ihm viele Küsse ins Gesicht und auf seinen breiten, braunen Hals. Er betrachtete ungerührt das Spiel. Ich kletterte auf den Sessel und versuchte, in seinen Schoß zu passen. Ich war schon ein bisschen zu
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