Die gelehrige Schuelerin
groß dafür. ›Annie, Daddy sieht sich das Spiel an.‹ Ich ignorierte das und setzte mich auf sein Knie. Ich hörte nicht auf, ihn zu küssen und seine Schultern und den Rücken zu streicheln. Weißt du, ich erinnerte mich daran, wie ich es in dem alten Monroeschinken
Manche mögen’s heiß
gesehen hatte. Dort brachte Marilyn diesen einen Typen dazu, sich in sie zu verlieben, indem sie ihn mit heißen Küssen verführte. Ich fing an, ihm übers Gesicht zu lecken. Er starrte immer noch auf den Fernseher, aber ich wusste, dass er jetzt nicht mehr ans Spiel dachte. Ich umarmte ihn, drückte ihn an mich und streichelte mit den Händen seine Oberschenkel. Jetzt hatte ich alles von Daddy, was ich wollte. Ich erinnere mich, dass er sagte ›Annie, bitte‹. Aber das war ganz schwach und ängstlich. Ich hörte nicht auf. Ich wollte Daddy … Dann war es auf einmal ganz seltsam im Zimmer, so als ob ein Wind hindurchgefahren wäre. Ich hörte, wie der Fernseher ausgeschaltet wurde und es eigenartig still war. Daddy küsste mich wieder. Ich war ganz glücklich und hilflos.
Ich erinnere mich deutlich, dass ich auch ein wenig ängstlich war, denn irgendetwas hatte sich verändert – er spielte nicht mehr. Aber das machte mir nichts aus. Es war so schön, in seinen Armen zu sein und seinen warmen Atem am Hals zu spüren. Er knöpfte meine Bluse auf. Dann hielt er ein, und ich wunderte mich, dass er nicht weitermachte. Er starrte auf die kleinen roten Flecken, erste Anzeichen meiner wachsenden Brüste. Dann traten Tränen in seine Augen, aus dem Nichts. ›Gott, vergib mir‹, stammelte er, ›Gott, vergib mir.‹ Sonst sprach er nie über Gott. Schon war er die Treppe zum Schlafzimmer hinaufgerannt. ›Daddy, was ist los?‹ Aber er hörte mich nicht mehr. Wenige Minuten später rannte er mit seinem Koffer aus der Tür, und das war das Letzte, was ich von ihm gesehen habe. Ich saß einfach da, kuschelte mich in den Sessel, auf dem er vorher gesessen hatte, und sog den letzten Duft und die Wärme von ihm ein.
Ich weinte. Ich musste weinen. Ich wollte, dass alles wieder gut würde. Irgendwie wusste ich, dass es niemals wieder wie vorher werden würde. Dann kam Mammie nach Hause, und ich erzählte ihr, dass er uns verlassen hatte. Ich sagte ihr aber nicht, warum – ich brachte es nicht fertig, ihr zu sagen, was ich getan hatte, dass alles mein Fehler gewesen wäre –, und wir weinten zusammen. Ich wollte, dass sie mich in den Arm nähme, mich wiegte und tröstete. Ich wollte ihr sagen, wie Leid mir das alles täte. Aber sie saß nur da und weinte, um mich, um ihn, um uns. Sie schien sich in Tränen aufzulösen. Dann hörte ich also auf zu weinen, ging zu ihr hinüber, nahm sie in die Arme und sagte ihr, dass schon alles wieder in Ordnung käme. Wir würden zusammenhalten. Wir waren verloren.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Annie liefen Tränen über die Wangen, ununterbrochen, wie kleine Mäuse. Und sie wischte sie nicht weg.
»Er schickt uns Geld«, fuhr sie fort. Bitter breitete sie auch noch den Rest des Geheimnisses aus. »Bargeld. In einem Umschlag. Ich bewahre jeden Umschlag auf. Ich träume davon, einmal in das richtige Postamt zu gehen und ihn dort zu treffen, während er das Geld aufgibt. Aber dann denke ich, dass er es einfach in einen Briefkasten schmeißt, irgendwo, an irgendeiner Ecke, in irgendeiner Stadt, und ich werde niemals wissen, wo das ist. Dabei möchte ich ihm doch nur sagen, wie Leid es mir tut.«
»Annie …«
»Ich weiß, es ist nicht mein Fehler. Es war eine schlechte Ehe. Er hätte uns irgendwann vermutlich sowieso verlassen. Ich war erst zwölf Jahre alt. Aber ich war mir dessen bewusst, was ich tat.«
»Annie.« Ich legte sehr viel Nachdruck in meine Stimme.
»Ich weiß, dass jeder Mensch in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu allem fähig ist.«
Sie sah mich an und ließ meine Worte ins Bewusstsein sinken. »Hier war dein Vater der Erwachsene. Und ein Augenblick macht keinen guten oder schlechten Menschen aus einem. Wir sind als Menschen alle zu schwach, um nur an einem Augenblick gemessen zu werden. Du hast ganz bestimmt keinen Fehler gemacht. Du hast dich aber gequält, als ob du an allem Schuld hättest. Gib es auf – das Bild von dir, dass du schlecht seist. Das bist du nicht.«
Sie langte zur Gangschaltung und legte ihre Hand auf meine rechte. Dann drückte sie fest zu.
Ich scherte bei der nächsten Tankstelle aus. Wir wechselten uns in der einzigen Toilette ab.
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