Die gelehrige Schuelerin
hatte Lust, sofort nach Hause zu gehen. Heute besaß ich einfach nicht die Kraft, meinem Lehrerberuf nachzukommen. Annie zeigte mir, was Stärke war. Sie versteckte sich nicht. Ich war schlecht. Sie war gut.
Zum Unterricht erschien sie nicht. Wollte sie erst mal ihren Brief wirken lassen? Wollte sie es mir ersparen, sie sogleich wieder in körperlicher Anwesenheit erleben zu müssen? Unter diesen Umständen wäre es tatsächlich schwierig gewesen. Ich war ihr dankbar. Unglaublich, aber ich durchstand den ganzen Tag, wobei ich mich an jeden Zipfel »Mr. Lester« klammerte, dessen ich habhaft werden konnte.
Am Nachmittag begegnete ich ihr kurz in der Halle. Während wir aneinander vorbeigingen, gelang es mir, ihr zuzuflüstern: »Heute Abend. Komme heute Abend herüber.« Schnell eilte ich weiter. Ich hatte nicht den Mut, Annie in die Augen zu sehen.
Nein. Ich konnte nicht aufhören. Nein. Kein Ende. Kein Aufhören mit der Liebe. Nein. Kein Aufhören des Verlangens. Nein.
Gar nichts hörte auf!
Nein!
Annie betrat meine Wohnung. Ich war ihr sofort dankbar und erleichtert, dass sie in ihrer normalen Armeehose, den Turnschuhen, Sweatshirt und ihrer Lederjacke gekommen war. Ich sagte schüchtern: »Hallo.«–»Hey«, antwortete sie ebenso scheu. Dann wollte sie ins Wohnzimmer gehen, stoppte plötzlich neben mir und gab mir einen schnellen Kuss auf die Wange, so, als ob sie nicht sicher wäre, ob das im Augenblick das Richtige sei, als ob sie es aber trotzdem tun wollte. Ich wollte sie wieder küssen. Ich wollte von ihr ergattern, was immer ich konnte.
»Nun?«, sagte sie und setzte sich auf die Couch.
»Ja, also«, antwortete ich, unsicher wo ich anfangen, nicht wissend, womit ich überhaupt beginnen sollte.
»Wir haben diese Woche die Endspiele verloren«, sagte Annie und füllte damit die Stille, die ich hinterlassen hatte. »Damit ist die Saison vorbei.«
»Meinst du die Basketballspiele?«
»Klar. Was sonst?«
»Schade.«
»Jaha.«
Sie stand auf und schaltete den Fernseher ein. Vielleicht brauchte sie ein summendes Nebengeräusch, auf das wir uns konzentrieren konnten, anstatt darüber zu reden, was schief gelaufen war. Das Gesabber der Schauspieler half ein wenig, aber wir fühlten uns echt unwohl. Annie durchsuchte den Kühlschrank.
»Nichts Essbares da, Lester«, sagte sie beiläufig, als versuchte sie, eine gezwungene Stimmung aufkommen zu lassen.
»Habe seit langer Zeit nichts mehr eingekauft.« Sie fand ein paar Kekse und Erdnussbutter, woraus sie Minisandwiches produzierte.
Wo sollte ich nur anfangen? Ich hätte einfach nur von Liebe reden wollen. Heile mit Liebe. Ich liebe dich. Lass uns alles mit Liebe in Ordnung bringen. Wie können die Dinge schlecht stehen, wenn Liebe vorhanden ist?
Aber ich sagte nur: »Die Kekse sind alt.«
»Das sagst du mir?«, antwortete sie lachend. »Schließlich bin ich diejenige, die Sägemehl mit Erdnussbutter essen muss.«
Auch ich lachte höflich, nicht zu begeistert, denn es war ja nicht wirklich komisch. Vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt, aber jetzt war mir nur zu klar, dass Annie versucht hatte, mich damit etwas aufzumuntern. Wir waren beide verlegen, weil wir uns so auf uns konzentrieren mussten und nicht reden konnten.
Wir machten weiter Konversation, sahen ab und zu ins Fernsehen und sprachen nach einer Weile, ich will verdammt sein, über die Inflation. Sollte sie doch zur Hölle fahren, diese Inflation. Dann Pausen. Stille. Wir konnten uns gegenseitig atmen hören. Ich tat so, als konzentrierte ich mich auf den uralten Gangsterfilm, der über den Bildschirm flimmerte. Dann hatte ich plötzlich einen Gedanken, der mir genauso schmerzhaft durchs Gehirn schoss und meine Gedärme aufwühlte, wie die Kugel auf dem Bildschirm, die eben den Bauch eines Gangsters erreicht hatte.
Vielleicht liebt Annie mich nicht mehr.
Vielleicht hängt sie nur bei mir herum, um mir was Gutes zu tun, oder weil sie sich bei mir immer noch ein wenig wohl fühlt. Liebhabers Fehler Nummer achtundneunzig: Es ist vorbei. Ein Partner liebt schon etwas weniger, beendet aber die Beziehung nicht aus Angst, den anderen damit zu verletzen. Liebhabers Fehler Nummer neunundneunzig: Es ist vorbei. Ein Partner liebt schon etwas weniger, bleibt aber in der Beziehung, weil sich zurzeit niemand anderes findet, mit dem man sich wohl fühlen könnte. Vor wem könnte Annie sich schließlich noch so natürlich ausziehen? Ihre Leidenschaft hinausschreien?
Ich hätte es nicht ertragen können,
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