Die Gelehrten der Scheibenwelt
haben wir ihn falsch rekonstruiert und mehrere verschiedene Bäume für einen gehalten.
Dieses neue Bild ändert unsere Sicht auf die menschliche Evolution. Ein Tier im Burgess-Schiefer, Pikaia genannt, ist ein Chordatier. Das ist die Gruppe, aus der sich alle heute lebenden Tiere mit einer Chorda, einer Rückensaite, entwickelt haben, darunter Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere. Pikaia ist unser ferner Vorfahre. Ein anderes Wesen im Burgess-Schiefer, Nectocaris, hat ein gliederfüßerartiges Vorderende, aber das Hinterende eines Chordatieres, und es hat keine überlebenden Nachkommen hinterlassen. Doch beide lebten in derselben Umwelt, und keins von beiden ist sichtlich ›besser‹ fürs Überleben ausgestattet als das andere. Wenn nämlich eins evolutionär weniger tüchtig gewesen wäre, wäre es höchstwahrscheinlich ausgestorben, lange ehe die Fossilien sich bildeten. Was also entschied darüber, welcher Zweig ausstarb und welcher überlebte? Die von Gould vorgeschlagene Antwort lautete: der Zufall.
Der Burgess-Schiefer bildete sich an einer der wichtigsten geologischen Grenzen: am Ende des Präkambriums und zu Beginn des Paläozoikums. Der früheste Teil des Paläozoikums ist als Kambrium-Periode bekannt und war eine Zeit gewaltiger biologischer Vielfalt – der ›Kambrischen Explosion‹. Die Geschöpfe der Erde erholten sich vom Aussterben der Ediacarer, und die Evolution nutzte die Gelegenheit, neue Spiele zu spielen, denn eine Zeitlang war es nicht so entscheidend, ob sie sie schlecht spielte. Der ›Selektionsdruck‹ auf neue Körper-Baupläne war gering, weil sich das Leben noch nicht vollends vom großen Sterben erholt hatte. Unter diesen Umständen, sagte Gould, ist es größtenteils Glückssache, was überlebt und was nicht – Schlammrutsch oder nicht, trockenes oder feuchtes Klima. Wenn man die Evolution von diesem Punkt an nochmals ablaufen ließe, würden höchstwahrscheinlich völlig andersartige Organismen überleben, andere Äste des Lebensbaumes würden gekappt werden.
Beim zweiten Mal könnte es leicht unser Ast sein, der weggeschnitten würde.
Diese Sichtweise der Evolution als ›Zuteilungs‹-Prozeß, bei dem der Zufall eine große Rolle spielt, hat etwas für sich. Es ist eine sehr nachdrückliche Art, um festzustellen, daß Menschen nicht die Krone der Schöpfung sind, nicht der Zweck des ganzen Unternehmens.* [ * Mit den Worten des Gottes der Evolution auf der Scheibenwelt: »… der Sinn der ganzen Sache liegt in der ganzen Sache.« ] Wie können wir das sein, wenn ein paar zufällige Rucke uns völlig vom Brett hätten fegen können? Gould reizte seine Karten jedoch zu weit aus (und zog sich in späteren Schriften etwas zurück). Ein kleines Problem liegt darin, daß neuere Rekonstruktionen der Tiere aus dem Burgess-Schiefer darauf hinweisen, daß ihre Vielfalt vielleicht etwas überschätzt wurde – obwohl sie immer noch sehr groß ist.
Das größte Loch in dem Argument ist jedoch die Konvergenz. Die Evolution kommt auf Lösungen für Probleme des Überlebens, und oft ist der Spielraum für die Lösungen eng. Die Welt der Gegenwart wimmelt von Beispielen für ›konvergente Evolution‹, wo Wesen sehr ähnliche Formen haben, aber ganz unterschiedliche Entwicklungsgeschichten. Der Hai und der Delphin beispielsweise haben dieselbe Stromlinienform, spitze Schnauze und dreieckige Rückenflosse. Aber der Hai ist ein Fisch und der Delphin ein Säugetier.
Wir können die Eigenschaften von Organismen in zwei große Kategorien unterteilen: Universalien und Regionalismen. Universalien sind allgemeine Lösungen für Überlebensprobleme – Methoden, die breite Anwendung finden können und sich mehrfach unabhängig voneinander entwickelt haben. Flügel beispielsweise sind Universalien zum Fliegen: Sie haben sich unabhängig bei Insekten, Vögeln, Fledermäusen und sogar fliegenden Fischen entwickelt. Regionalismen ereignen sich zufällig, und es gibt keinen Grund, daß sie sich wiederholen sollten. Der Weg für die Speise kreuzt bei uns den für die Luft, was zu einer Menge Husten und Krächzen führt, wenn etwas ›in die falsche Kehle kommt‹. Das ist keine Universalie: Wir haben es, weil zufällig unser ferner Vorfahr, der als erster aus dem Ozean ans Land kroch, es hatte. Es ist nicht einmal eine besonders sinnvolle Anordnung – es funktioniert nur eben gut genug, daß seine Nachteile nicht gegen uns ins Gewicht fallen, wenn sie zusammen mit allem anderen
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