Die Gelehrten der Scheibenwelt
keinen Zusammenhang zwischen der Dicke eines Astes und der Größe der zugehörigen Population – der dicke Stamm am Boden kann weniger Organismen oder weniger organische Gesamtmasse darstellen als ein Zweig an der Spitze. (Nehmen wir zum Beispiel den Menschen-Zweig …) Die Art, wie sich die Äste teilen, kann auch irreführend sein: Sie setzt eine gewisse langanhaltende Kontinuität von Arten voraus, selbst wenn neue auftauchen, da bei einem Baum die neuen Zweige allmählich aus den alten hervorgehen. Darwin hielt die Bildung neuer Arten grundsätzlich für einen allmählichen Vorgang, doch darin kann er sich geirrt haben. Die Theorie des ›unterbrochenen Gleichgewichts‹ von Stephen Jay Gould und Niles Eldredge besagt das Gegenteil: Die Artenbildung erfolgt plötzlich. Tatsächlich gibt es ausgezeichnete mathematische Gründe für die Annahme, daß die Artenbildung Elemente von beidem enthält – manchmal plötzlich, manchmal allmählich.
Ein weiteres Problem beim Baum des Lebens ist darin zu sehen, daß viele von seinen Ästen fehlen – viele Arten sind unter den Fossilien nicht vertreten. Am irreführendsten ist die Art, wie die Menschen ganz oben an der Spitze plaziert werden. Aus psychologischen Gründen setzen wir Höhe mit Wichtigkeit gleich (wie in der Wendung ›Euer Königliche Hoheit‹), und wir sehen uns nur zu gern als das wichtigste Wesen auf dem Planeten. Die Höhe einer Art im Baum des Lebens zeigt aber an, zu welcher Zeit sie gedieh, so daß jeder heutige Organismus, sei es eine Küchenschabe, eine Biene, ein Bandwurm oder eine Kuh, auf derselben Höhe wie wir steht.
In Zufall Mensch: das Wunder des Lebens als Spiel der Natur hatte Gould am Bild vom Baum noch etwas anderes auszusetzen, und er gründete seinen Widerspruch auf eine bemerkenswerte Folge von Fossilien, die sich in einer als Burgess-Schiefer bekannten Gesteinsschicht erhalten haben. Diese Fossilien, die vom Beginn des Kambriums datieren,* [ * Den modernsten Datierungsmethoden zufolge begann das Kambrium-Zeitalter vor 543 Millionen Jahren. Der Burgess-Schiefer wurde vor etwa 530 bis 520 Millionen Jahren abgelagert. ] sind die Überreste von Wesen mit weichen Körpern, die auf Schlammbänken am Fuße eines Algenriffs lebten und unter rutschenden Schlamm-Massen begraben wurden. Es gibt sehr wenig Fossilien von Lebewesen mit weichen Körpern, da gewöhnlich nur die härteren Teile bei der Fossilbildung erhalten bleiben. Die Bedeutung der Fossilien im Burgess-Schiefer wurde jedoch nach ihrer Entdeckung durch Charles Walcorr 1909 lange nicht erkannt, bis Harry Whittington sie sich 1971 genauer ansah. Die Organismen waren alle plattgedrückt, und man schien unmöglich feststellen zu können, welche Form sie zu Lebzeiten gehabt hatten. Dann zog Simon Conway Morris die zusammengedrückten Schichten auseinander und rekonstruierte mit Hilfe eines Computers die ursprünglichen Formen – und das Geheimnis des Burgess-Schiefers wurde der Welt offenbar.
Bis dahin hatten die Paläontologen die Organismen aus dem Burgess-Schiefer in verschiedene herkömmliche Kategorien eingeordnet – Würmer, Gliederfüßer, was auch immer. Doch nun wurde deutlich, daß die meisten Zuordnungen falsch waren. Wir kannten beispielsweise nur vier herkömmliche Typen von Gliederfüßern: Trilobiten (jetzt ausgestorben), Spinnentiere (Spinnen, Skorpione), Krebse und Tracheentiere (Insekten und andere). Der Burgess-Schiefer enthält Vertreter von allen diesen – aber er enthält auch zwanzig andere, radikal unterschiedliche Typen. In diesem einen Schlammrutsch, in Schieferschichten erhalten wie zwischen Buchseiten gepreßte Blumen, finden wir eine größere Vielfalt als im ganzen heutigen Leben.
Beim Nachdenken über die erstaunliche Entdeckung erkannte Gould, daß die meisten Äste des Lebensbaumes, die von den Burgess-Tieren ausgingen, durch Aussterben ›gekappt‹ worden sein müssen. Vor langer Zeit verschwanden 20 von jenen 24 Körperbauplänen für Gliederfüßer vom Antlitz der Erde. Der Unerbittliche Schnitter beschnitt den Baum des Lebens, und das mit grober Schere. Also schlug Gould vor, ein besseres Bild als ein Baum wäre so etwas wie Buschland. Hier und da sprossen ›Büsche‹ von Arten aus dem Urboden. Die meisten jedoch wuchsen nicht weiter und wurden vor Hunderten von Jahrmillionen weggeschnitten. Andere Büsche wuchsen zu großen Sträuchern heran, ehe sie aufhörten … Und ein großer Baum schaffte es bis in die Gegenwart. Oder vielleicht
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