Die Gelehrten der Scheibenwelt
konnte. Sie wußten, daß es veränderlich war, chaotisch, unvorhersehbar …
Sie wußten nicht, daß es Dort Oben – im übrigen Universum – anders ist. Der größte Teil davon ist leerer Raum, ein Vakuum. Vakuum kann man nicht atmen. Wo kein Vakuum ist, befinden sich größtenteils riesige Kugeln von überhitztem Plasma. Auf einer Feuerkugel kann man nicht stehen. Und der größte Teil dessen, was weder Vakuum noch Feuer ist, ist lebloses Gestein. Gestein kann man nicht essen.* [ * Freilich, Salz kann man essen. Aber außerhalb der Scheibenwelt geht niemand in ein Restaurant, um ein Basalt-Balti zu bestellen. ] Später sollten sie das erfahren. Eines wußten sie aber: daß es Dort Oben nach menschlichen Zeitmaßen ruhig, geordnet, regelmäßig zuging. Und auch kalkulierbar – man konnte seinen Steinkreis danach stellen.
Das alles erzeugte ein allgemeines Gefühl, der Unterschied zwischen Dort Oben und Hier Unten habe einen Grund . Hier Unten war offensichtlich für uns bestimmt. Dort Oben war es ebenso offensichtlich nicht. Also mußte es für jemand anders bestimmt sein. Und die neue Menschheit machte sich schon Gedanken über geeignete Bewohner, und sie tat das schon immer, seit sie sich in Höhlen vor dem Donner verkroch. Die Götter! Die waren Dort Oben und blickten herab! Und ganz offensichtlich hatten sie das Sagen, denn die Menschheit hatte es offensichtlich nicht. Als Zugabe erhielt man gleich noch eine Erklärung für alles Hier Unten, was weitaus verwickelter als das war, was man Dort Oben sah, eine Erklärung für Gewitter und Erdbeben und Bienen. Die wurden von den Göttern regiert.
Das war ein hübsches Bündel. Es gab uns ein Gefühl von Wichtigkeit. Zumal die Priester machten es wichtig. Und da Priester Leute waren, die einem die Zunge herausreißen lassen oder einen ins Löwenland verbannen konnten, wenn man ihre Meinung nicht teilte, wurde das im Handumdrehen zu einer ungeheuer beliebten Theorie, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil die Anhänger anderer Theorien nicht reden konnten oder irgendwo auf einem Baum saßen.
Und dennoch … Es kam immer wieder vor, daß ein Verrückter ohne Selbsterhaltungstrieb geboren wurde, der die ganze Geschichte für unbefriedigend hielt und den Zorn der Priesterschaft riskierte, indem er das sagte. Solche Leute fand man schon zur Zeit der Babylonier, deren Zivilisation zwischen 4000 und 300 v. Chr. zwischen und an den Flüssen Euphrat und Tigris blühte. Die Babylonier – ein Begriff, der einen ganzen Haufen halbunabhängige Völker umfaßt, die in einzelnen Städten wie Babylon, Ur, Nippur, Uruk, Lagasch und so weiter lebten – verehrten die Götter jedenfalls so, wie es alle anderen auch taten. Eine ihrer Geschichten ist beispielsweise die Grundlage für die biblische Erzählung von Noah und seiner Arche. Aber sie interessierten sich auch lebhaft dafür, was diese Lichter am Himmel tatsächlich taten. Sie wußten, daß der Mond rund ist – eher eine Kugel als eine flache Scheibe. Wahrscheinlich wußten sie auch, daß die Erde rund ist, da sie bei Mondfinsternissen einen runden Schatten auf den Mond warf. Sie wußten, daß das Jahr ungefähr 365 Tage lang ist. Sie kannten sogar die ›Präzession des Frühjahrspunktes‹, eine zyklische Veränderung, die in rund 26 000 Jahren einen Umlauf vollendet. Sie machten diese Entdeckungen, indem sie sorgfältig aufzeichneten, wie sich Mond und Planeten am Himmel bewegten. Babylonische astronomische Aufzeichnungen von 500 v.Chr. sind bis heute erhalten geblieben.
Aus solchen Anfängen entstand eine alternative Erklärung des Weltalls. Götter kamen darin nicht vor, zumindest nicht direkt, also traf sie bei der Priesterklasse auf wenig Gegenliebe. Manche Nachfahren dieser Klasse versuchen sogar heute noch, die Erklärung auszulöschen. Die traditionellen Priesterschaften (denen damals wie heute oft einige sehr intelligente Leute angehörten) haben im Laufe der Zeit eine Anpassung an diese gottlose Denkweise erarbeitet, aber sie ist weiterhin unbeliebt bei Postmodernisten, Kreationisten, Boulevardastrologen und anderen Leuten mit einer Vorliebe für Antworten, die man sich zu Hause selbst zurechtschustern kann.
Der gegenwärtig übliche Name für das, was unter anderem ›Ketzerei‹ und ›Naturphilosophie‹ genannt worden ist, lautet natürlich ›Wissenschaft‹.
Die Wissenschaft hat ein sehr seltsames Bild vom Universum entwickelt. Sie geht davon aus, daß das Weltall nach Regeln funktioniert.
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