Die Gelehrten der Scheibenwelt
langes Kabel zum Boden herabhängen. Es muß ein phänomenal starkes Kabel sein. Wir haben die nötige Technik noch nicht, aber ›Nanotubes‹, Kohlenstoff-Nanofasern, die jetzt im Labor entwickelt werden, kommen diesen Vorstellungen nahe. Wenn man mit der Technik klarkommt, kann man einen 35 000 km hohen Aufzug bauen. Die Kosten wären enorm, doch dann könnte man Dinge in den Weltraum befördern, indem man sie einfach am Kabel hochzieht.
Ach, aber gegen die Physik kommt man nicht an! Die benötigte Energie wäre genau dieselbe, als wenn man eine Rakete benutzte.
Natürlich. Wie die Energie, die man braucht, ein Känguruh in die Höhe zu bringen, die gleiche ist wie bei einem Sack Kartoffeln.
Der Trick besteht darin, eine Möglichkeit zu finden, wie man Energie borgt und zurückzahlt. Der Witz ist: Wenn der Aufzug erst einmal vorhanden ist, kommt nach einer Weile genausoviel herunter, wie hinauffährt. Wenn man auf dem Mond oder auf den Planetoiden Metalle abbaut, wird eigentlich sogar mehr herunter- als heraufkommen. Die Stoffe, die herabfahren, liefern die Energie für jene, die hinauffahren. Im Gegensatz zu einer Rakete, die jedesmal verbraucht wird, wenn man sie abschießt, versorgt sich ein Weltraumlift selbst.
Das Leben ist wie ein Weltraumlift. Womit sich das Leben selbst versorgt, ist nicht Energie, sondern Organisation. Wenn man erst einmal ein derart hochorganisiertes System hat, daß es Kopien von sich selbst herstellen kann, ist der Grad der Organisation nicht mehr ›teuer‹. Die ursprüngliche Investition mag riesig gewesen sein, wie für den Weltraumlift, doch nachdem sie einmal gemacht wurde, ist der Rest umsonst.
Wenn Sie Biologie verstehen wollen, dann brauchen Sie die Physik von Weltraumlifts, nicht die von Raketen.
Wie kann die Magie der Scheibenwelt die Wissenschaft der Rundwelt erhellen? Genauso, wie sich die Kluft zwischen den physikalischen und den biologischen Wissenschaften als viel schmaler erwiesen hat, als wir immer dachten, wird auch die Kluft zwischen Wissenschaft und Magie immer schmaler. Je weiter unsere Technik fortschreitet, um so weniger kann der durchschnittliche Nutzer die mindeste Ahnung haben, wie sie funktioniert. Im Ergebnis wirkt sie immer mehr wie Zauberei. Wie Clarke erkannte, ist diese Tendenz unvermeidlich; Gregory Benford ist weitergegangen und hat sie für wünschenswert erklärt.
Technik funktioniert, weil derjenige, der sie ursprünglich baute, genug von den Regeln des Universums herausgefunden hatte, damit sie das tat, was von ihr verlangt wurde. Man braucht die Regeln nicht richtig zu kennen, damit das klappt, nur richtig genug – Raumraketen funktionieren gut, obwohl ihre Flugbahnen nach Newtons Ansatz für die Regeln der Gravitation berechnet werden, der weniger genau als der von Einstein ist. Doch was man erreichen kann, ist nachdrücklich eingeschränkt auf das, was die Regeln des Universums zulassen. Bei der Magie hingegen funktionieren Dinge, weil jemand es will. Man muß immer noch den richtigen Zauberspruch finden, doch vorangetrieben wird die Entwicklung von den Wünschen der Menschen (und natürlich von Wissen, Fertigkeit und Erfahrung des Ausführenden). Das ist einer der Gründe, warum Wissenschaft oft unmenschlich erscheint, denn sie betrachtet, wie das Universum uns vorantreibt, statt umgekehrt.
Magie ist jedoch nur ein Aspekt der Scheibenwelt. Auf der Scheibenwelt gibt es auch jede Menge Wissenschaft – oder zumindest rationale Vorgehensweisen. Bälle werden geworfen und gefangen, die Biologie des Flusses Ankh ähnelt der irdischer Sümpfe oder Rieselfelder, und das Licht breitet sich mehr oder weniger geradlinig aus. Allerdings sehr langsam. Wie wir in Das Licht der Phantasie lesen: »Ein neuer Scheibenwelttag dämmerte, aber nur sehr langsam, und zwar aus folgendem Grund: Wenn Licht auf ein starkes magisches Feld trifft, vergißt es plötzlich, was Eile bedeutet. Es wird geradezu träge. Und auf der Scheibenwelt war die Magie besonders stark ausgeprägt. Deshalb glitt das mattgelbe Glühen der Dämmerung wie eine sanfte, liebkosende Hand über die Landschaft – goldenem Sirup gleich, wie manche Leute meinen.« Dieselbe Passage teilt uns mit, daß es neben rationalen Verfahrensweisen in der Scheibenwelt jede Menge Magie gibt: unverhüllte Magie, die das Licht verlangsamt, Magie, die es der Sonne erlaubt, die Welt zu umkreisen, vorausgesetzt, daß gelegentlich einer der Elefanten ein Bein hebt, um die Sonne durchzulassen. Die Sonne
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