Die Gelehrten der Scheibenwelt
Entwicklung bleibt die Technik für den Benutzer jedoch nicht durchschaubar. Als mehr Menschen Autos benutzten, wurde immer mehr von der offensichtlichen Technik durch Symbole ersetzt. Man betätigte Schalter mit Aufschriften, damit etwas geschah. Das ist unsere Version des Zauberspruchs: Man drückt einen Knopf mit der Aufschrift ›Kaltstart‹, und der Motor führt alles, was zum Kaltstart gehört, selbst aus. Wenn Oma fahren will, braucht sie nicht viel mehr zu tun, als aufs Gaspedal zu treten. Den Rest erledigen kleine Dämonen mittels Magie.
Dieser Vorgang ist der Kern des Verhältnisses von Wissenschaft und Magie in unserer Welt. Das Universum, in das wir hineingeboren wurden und in dem sich unsere Art entwickelt hat, funktioniert nach Regeln – und die Wissenschaft ist die Methode, wie wir herauszufinden versuchen, welche Regeln dies sind. Doch das Universum, das wir für uns aufzubauen im Begriff sind, ist ein Universum, das für jeden mit Ausnahme der Mitglieder des Entwicklungsteams – und höchstwahrscheinlich sogar für diese – mit Hilfe von Magie funktioniert.
Eine besondere Art von Magie gehört zu jenen Dingen, die den Menschen dazu gemacht haben, was er ist. Sie heißt Bildung. Mit Hilfe von Bildung geben wir eine Idee von einer Generation an die nächste weiter. Wenn wir wie Computer wären, könnten wir unseren Geist auf unsere Kinder kopieren, damit sie in Übereinstimmung mit den Ansichten aufwüchsen, die uns lieb und teuer sind. Nun ja, im Grunde täten sie das nicht, obwohl sie auf diese Weise anfangen könnten. Bildung hat einen Aspekt, auf den wir Sie aufmerksam machen möchten. Wir nennen ihn ›Lügen-für-Kinder‹. Uns ist bewußt, daß manche Leser etwas gegen das Wort ›Lügen‹ haben könnten – auf einer wissenschaftlichen Konferenz gerieten Ian und Jack in schreckliche Schwierigkeiten mit ein paar Schweden, die den Ausdruck wörtlich und fürchterlich ernst nahmen und etliche Tage damit zubrachten, zu widersprechen, es sei keine Lüge. Es ist eine Lüge. Es ist, wenn auch aus den besten Gründen, so doch eine Lüge. Eine Lüge-für-Kinder ist eine Behauptung, die falsch ist, aber trotzdem das Denken des Kindes zu einer richtigeren Erklärung hinführt, zu einer Erklärung, die das Kind nur dann zu schätzen weiß, wenn es zunächst mit einer Lüge vorbereitet worden ist.
Die frühen Stadien der Bildung müssen eine Menge Lügen-für-Kinder enthalten, denn frühe Erklärungen müssen einfach sein. Wir leben aber in einer komplexen Welt, und Lügen-für-Kinder müssen zum gegebenen Zeitpunkt durch komplexere Geschichten ersetzt werden, wenn sie nicht echte Lügen mit Zeitzünderwirkung werden sollen. Leider besteht das, was die meisten von uns von Wissenschaft wissen, aus der unklaren Erinnerung an Lügen-für-Kinder. Zum Beispiel der Regenbogen. Wir erinnern uns alle, wie man uns in der Schule erzählt hat, daß Glas und Wasser das Licht in seine Spektralfarben zerlegen – es gibt sogar ein hübsches Experiment, bei dem man sie sehen kann –, und man hat uns gesagt, daß dadurch der Regenbogen entsteht, aus Licht, das durch Regentropfen dringt. Als Kinder sind wir nie auf den Gedanken gekommen, daß das zwar die Farben des Regenbogens erklärt, aber nicht seine Form. Ebensowenig erklärt es, wieso sich das Licht der vielen verschiedenen Regentropfen bei einem Gewitter derart zusammenfügt, daß ein leuchtender Bogen entsteht. Warum verwischt es sich nicht? Hier ist nicht der Ort, Ihnen von der eleganten Geometrie des Regenbogens zu erzählen – aber Sie sehen, warum ›Lüge‹ gar kein so heftiger Ausdruck ist. Die Schulerklärung lenkt unsere Aufmerksamkeit vom wahren Wunder des Regenbogens ab, vom Zusammenspiel aller Regentropfen, indem sie vorgibt, mit den Farben sei alles erklärt.
Andere Beispiele von Lügen-für-Kinder sind die Vorstellung, das Magnetfeld der Erde sei wie ein großer Stabmagnet mit den Aufschriften N und S; das Bild vom Atom als einem Miniatur-Sonnensystem; die Idee, eine lebende Amöbe sei ein Milliarden Jahre alter ›primitiver‹ Organismus; das Bild von der DNA als Konstruktionszeichnung für ein Lebewesen und der Zusammenhang zwischen Relativität und Einsteins Frisur (das ist ein verrückter Einfall, wie ihn nur Leute mit solchen Haaren haben). Die Quantenmechanik hat kein öffentliches Symbol dieser Art – sie erzählt keine einfache Geschichte, die ein Laie erfassen und behalten kann –, daher fühlt man sich bei ihr
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