Die Gelehrten der Scheibenwelt
dafür?« fragte der Oberste Hirte. In seinem Gesicht spiegelte sich das vom Projekt ausgehende und heller werdende Licht wider.
»Ich glaube «, sagte Ponder langsam und hob HEX’ Ausschrieb, »es liegt daran, daß Zeit und Raum gerade begonnen haben.«
HEX’ sorgfältig geschriebene Schriftzeichen bildeten folgende Worte: +++ Bei Abwesenheit von Dauer und Dimension muß es Potentialität geben. +++
Und die Zauberer betrachteten das Universum, das da wuchs inmitten der Kugel, und sie sprachen unter sich: »Es ist ziemlich klein, findet ihr nicht? Ist es schon Zeit fürs Essen?«
Später fragten sich die Zauberer, ob das neue Universum vielleicht anders beschaffen gewesen wäre, wenn der Dekan seine Finger auf eine andere Art und Weise bewegt hätte. Möglicherweise wäre die Materie im neu entstandenen Kosmos zu Gartenmöbeln herangewachsen, um ein Beispiel zu nennen, oder zu einer riesigen neundimensionalen Blume mit einem Durchmesser von einer Trillion Meilen. Aber Erzkanzler Ridcully wies darauf hin, dies sei kein besonders nützliches Denken, und zwar wegen eines uralten Prinzips, das er WDSIDWDBHUDSDNJ* [ * Was du siehst, ist das, was du bekommen hast, und deshalb solltest du nicht jammern. ] nannte.
SECHS
Beginnen und Werden
Potentialität ist der Schlüssel.
Unsere nächste Aufgabe ist es, mit einer Menge Vakuum und ein paar Regel anzufangen und Sie zu überzeugen, daß ihnen ein enormes Potential innewohnt. Wenn genug Zeit ist, können sie zu Menschen, Schildkröten, Wetter, dem Internet führen – genug. Woher kam das ganze Vakuum? Entweder ist das Weltall schon immer dagewesen, oder erst gab es kein Weltall, und dann gab es eins. Die zweite Aussage paßt hübsch zur menschlichen Vorliebe für Schöpfungsmythen. Sie zieht auch die Wissenschaftler unserer Tage an – möglicherweise aus demselben Grund. Lügen-für-Kinder stecken tief.
Ist Vakuum nicht einfach … leerer Raum? Was war da, ehe es Raum gab? Wie macht man Raum? Aus Vakuum? Ist das nicht ein Teufelskreis? Wenn wir in der Vergangenheit keinen Raum hatten, wie kann es dann einen Ort gegeben haben, an dem was auch immer existieren konnte? Und wenn es keinen Ort gab, wo es existieren konnte, wie brachte es es dann fertig, Raum zu machen? Vielleicht war der Raum schon da … Aber warum? Und was ist mit der Zeit ? Im Vergleich zur Zeit ist der Raum einfach. Raum ist bloß … ein Ort, wo Materie hinkommen kann. Materie ist bloß … Stoff. Aber die Zeit – die Zeit fließt, die Zeit vergeht, die Zeit hat Sinn in der Vergangenheit und in der Zukunft, aber nicht in der augenblicklichen, erstarrten Gegenwart. Was bringt die Zeit zum Fließen? Könnte der Fluß der Zeit angehalten werden? Was geschähe dann?
Es gibt kleine Fragen, es gibt mittelgroße Fragen, und es gibt große Fragen. Nach denen noch größere Fragen kommen, riesige Fragen und Fragen von solchen Ausmaßen, daß man sich schwer vorstellen kann, welche Reaktion als Antwort gelten könnte.
Die kleinen Fragen kann man für gewöhnlich erkennen: Sie sehen ungeheuer kompliziert aus. Sätze wie ›Welche Molekularstruktur hat das linksdrehende Isomer der Glukose?‹ Wenn die Fragen größer werden, werden sie trügerisch einfacher: ›Warum ist der Himmel blau?‹ Die wirklich großen Fragen sind so einfach, daß es verwunderlich erscheint, daß die Wissenschaft keine Ahnung hat, wie sie sie beantworten soll: ›Warum läuft das Weltall nicht rückwärts?‹ oder ›Warum sieht Rot so aus?‹
Das alles läuft darauf hinaus, daß es viel einfacher ist, eine Frage zu stellen, als sie zu beantworten, und je spezieller eine Frage ist, um so länger sind die Wörter, die man erfinden muß, um sie zu stellen. Überdies, je größer eine Frage ist, um so mehr Leute interessieren sich dafür. Um linksdrehende Glukose kümmert sich kaum jemand, aber fast alle möchten wir wissen, warum Rot so aussieht, wie es aussieht, und wir fragen uns insgeheim, ob es wohl für alle anderen genauso aussieht.
Draußen an den Rändern des wissenschaftlichen Denkens liegen Fragen, die groß genug sind, um fast jeden zu interessieren, aber klein genug, daß eine Chance bleibt, sie halbwegs exakt zu beantworten. Es sind Fragen wie ›Wie hat das Weltall begonnen?‹ und ›Wie wird es enden?‹ (›Was passiert dazwischen?‹ ist etwas ganz anderes.) Wir wollen von vornherein zugeben, daß die gegenwärtigen Antworten auf solche Fragen von verschiedenen zweifelhaften Annahmen abhängen. Frühere
Weitere Kostenlose Bücher