Die Gelehrten der Scheibenwelt
gelehrter Astronom dieselbe Frage stellte, gibt es eine andere Antwort: »Lauter Schildkröten, immer weiter abwärts!« Das Bild eines unendlichen Stapels von Schildkröten ist ohne weiteres grotesk, und die wenigsten Menschen halten es für eine befriedigende Erklärung. Sogar die Art der Erklärung finden die wenigsten Menschen befriedigend, und sei es nur, weil sie nicht erklärt, worauf sich der unendliche Stapel von Schildkröten stützt. Doch die meisten von uns sind ziemlich zufrieden, wenn der Ursprung der Zeit mit dem Satz »Sie ist immer dagewesen« erklärt wird. Selten betrachten wir diese Aussage genau genug, um zu erkennen, daß sie eigentlich bedeutet: ›Lauter Zeit, immer weiter zurück.‹ Wenn man nun ›Zeit‹ durch ›Schildkröten‹ und ›zurück‹ durch ›abwärts‹ ersetzt … Jeder Augenblick Zeit stützt sich auf den vorangehenden Augenblick – das heißt, er ist dessen kausale Folge. Schön, aber das erklärt nicht, warum die Zeit existiert. Was hält den ganzen Stapel?
Das alles bringt uns in ernste Verlegenheit. Wir haben Schwierigkeiten, von der Zeit als einer Sache zu denken, die ohne Vorgänger beginnt, denn dann ist schwerlich zu sehen, wie die Kausalität beschaffen sein soll. Doch wir haben ebenso häßliche Probleme, wenn wir von der Zeit als einer Sache mit einem Vorgänger denken, denn dann stoßen wir auf das Dilemma mit dem Stapel von Schildkröten. Ähnliche Schwierigkeiten haben wir mit dem Raum: Entweder erstreckt er sich endlos immer weiter, dann haben wir ›lauter Raum, immer weiter nach draußen‹, und wir brauchen einen noch größeren Ort, um die ganze Sache unterzubringen, oder er hört auf, und dann fragen wir, was sich dahinter befindet.
Der springende Punkt ist, daß keine von diesen Möglichkeiten befriedigt und der Ursprung von Raum und Zeit zu keinem der Modelle paßt. Das Weltall gleicht keinem Dorf, das an einem Zaun oder einer gedachten Linie auf dem Boden endet, ebensowenig gleicht es der fernen Wüste, die in der Unendlichkeit zu verschwinden scheint, sich in Wahrheit aber nur zu weit erstreckt, als daß wir das Ende deutlich sehen könnten. Die Zeit gleicht keinem Menschenleben, das mit der Geburt beginnt und mit dem Tode endet, noch gleicht sie dem verlängerten Menschenleben, das man in vielen Religionen findet, wo die menschliche Seele nach dem Tode auf unbegrenzte Zeit weiterlebt, oder dem weitaus selteneren Glauben (dem zum Beispiel die Mormonen anhängen), daß ein Aspekt jedes Menschen irgendwie schon in einer unbegrenzten Vergangenheit vorhanden war.
Wie also begann das Universum? ›Beginnen‹ ist das falsche Wort. Nichtsdestoweniger gibt es gewichtige Indizien, daß das Alter des Universums etwa 15 Milliarden Jahre* [ * Diese Zahl ersetzt den früher bevorzugten Wert von etwa 20 Milliarden Jahren. In letzter Zeit haben zahlreiche Wissenschaftler kollektiv entschieden, daß es eher 15 Milliarden sein sollen. (Eine Zeitlang sah es so aus, als seien einige Sterne älter als das Universum, doch das Alter jener Sterne ist auch nach unten korrigiert worden.) Unter anderen Umständen hätten sie sich durchaus für 20 Milliarden entscheiden können. Wenn Ihnen das Kummer bereitet, setzen Sie den Begriff ›eine sehr lange Zeit‹ ein. ] beträgt, also existierte nichts – weder Raum noch Zeit – vor einem Augenblick, der rund 15 Milliarden Jahre zurückliegt. Sie sehen, wie unsere vom Narrativium angetriebene Semantik uns verwirrt. Das heißt nicht, daß man, wenn man 15 Milliarden und ein Jahr zurückginge, nichts vorfände. Es heißt, man kann nicht 15 Milliarden und ein Jahr zurückgehen. Diese Zeitangabe hat keinen Sinn. Sie bezieht sich auf eine Zeit vor dem Beginn der Zeit, was logisch ein Widerspruch in sich selbst ist, erst recht physikalisch.
Dieser Gedanke ist nicht neu. Der Heilige Augustinus sprach ihn in seinen Bekenntnissen um 400 sehr deutlich aus: »Wenn es also vor Himmel und Erde keine Zeit gab, wie kann man dann fragen, was du* [ * Gott] damals machtest? Denn es war kein Damals, wo noch keine Zeit war.«* [ * Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. Übersetzt von Otto F. Lachmann. Leipzig 1888. XI. Buch, 12. Kapitel. ]
Manche haben es noch weiter getrieben. In The End of Time (Das Ende der Zeit) behauptet Julian Barbour, es gebe keine Zeit. Seiner Ansicht nach beschreiben die ›wirklichen‹ Gesetze der Physik ein statisches Universum von zeitlosen ›Jetzt‹-Zuständen. Er legt dar, die Zeit sei keine
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