Die Gelehrten der Scheibenwelt
stellen, wird uns klar, daß wir Langtons Ameise überhaupt nicht verstehen. Nehmen wir an, daß wir der Ameise vor dem Start eine Umwelt geben – wie färben ein paar von den Feldern schwarz. Nun wollen wir eine einfache Frage stellen: Baut die Ameise am Ende immer eine Straße? Niemand weiß das. Alle Experimente mit Computern deuten darauf hin, daß sie es tut. Andererseits kann niemand beweisen , daß sie es tut. Es könnte einige sehr seltsame Anordnungen von Feldern geben, und wenn man die Ameise dort beginnen läßt, könnte sie zu einem völlig anderen Verhalten veranlaßt werden. Oder es könnte einfach eine viel größere Straße sein. Vielleicht gibt es einen Zyklus von 1 349 772 115 998 Schritten, der eine andere Art von Straße hervorbringt, wenn man nur richtig anfängt. Wir wissen es nicht. Für dieses sehr einfache mathematische System mit einer einzigen einfachen Regel und einer sehr einfachen Fragestellung, wo wir die Theorie von Allem kennen … gibt sie uns nicht die gewünschte Antwort.
Langtons Ameise wird unser Wahrzeichen für eine sehr wichtige Idee sein: die Emergenz, das Hervortreten* [ * Das Konzept ist noch zu neu, um im Deutschen eine feststehende Bezeichnung zu haben. Eigenschaften oder Muster, die in der geschilderten Weise hervortreten, sowie Systeme mit solchen Eigenschaften werden daher oft – wie im Englischen – als emergent bezeichnet. – Anm. d. Übers. ]. Einfache Regeln können zu großen, komplexen Mustern führen. Es geht hier nicht darum, was das Universum ›wirklich tut‹. Es geht darum, wie wir Dinge verstehen und wie wir sie in unserem Denken strukturieren. Die einfache Ameise und ihr aus Feldern bestehendes Universum sind technisch gesprochen ein ›komplexes System‹ (es besteht aus einer großen Anzahl von Wesenheiten, die miteinander wechselwirken, obwohl die meisten von diesen Wesenheiten einfach quadratische Felder sind, die ihre Farbe wechseln, wenn eine Ameise sie betritt).
Wir können ein System schaffen und mit einfachen Regeln versehen, wo der ›gesunde Menschenverstand‹ den Schluß nahelegt, daß es in eine eintönige Zukunft führen wird, und oft werden wir feststellen, daß ziemlich komplexe Eigenschaften das Ergebnis sind. Und sie werden ›hervortreten‹ – das heißt, wir haben keine praktikable Methode, um herauszufinden, wie sie sein werden. Außer … eben abzuwarten und zu beobachten. Die Ameise muß tanzen. Es gibt keine Abkürzungen.
Emergente Phänomene, die man nicht im voraus vorhersagen kann, sind ebenso kausal wie die nicht emergenten: Sie sind logische Folgen der Regeln. Und man hat keine Ahnung, wie sie sein werden. Ein Computer nützt nichts – er kann lediglich bewirken, daß die Ameise sehr schnell läuft.
Hier ist ein ›geographisches‹ Bild von Nutzen. Der ›Phasenraum‹ eines Systems ist der Raum aller möglichen Zustände oder Verhaltensweisen – alles, was das System tun könnte, nicht nur das, was es wirklich tut. Der Phasenraum von Langtons Ameise besteht aus allen möglichen Arten, schwarze und weiße Felder in einem Raster anzuordnen – nicht nur die Felder, die die Ameise festlegt, indem sie die Regeln befolgt. Der Phasenraum für die Evolution sind alle denkbaren Organismen, nicht nur diejenigen, die bisher existiert haben. Die Scheibenwelt ist ein ›Punkt‹ im Phasenraum der konsistenten Universen. Phasenräume betreffen alles, was sein könnte, nicht das, was ist.
In diesem Bild sind die Eigenschaften eines Systems Strukturen im Phasenraum, die ihm eine wohldefinierte ›Geographie‹ verleihen. Der Phasenraum eines emergenten Systems ist unbeschreiblich kompliziert: Ein Gattungsname für solche Phasenräume ist ›Ameisenland‹, das man sich als endlose Vorstädte in Form von Berechnungen vorstellen kann. Um eine hervortretende Eigenschaft zu verstehen, müßte man sie finden, ohne Ameisenland Schritt für Schritt zu durchqueren. Dasselbe Problem tritt auf, wenn man von einer Theorie von Allem ausgeht und herausarbeitet, was sie bedeutet. Man kann die Mikro-Regeln festgestellt haben, doch dies bedeutet nicht, daß man ihre Makro-Folgen versteht. Eine Theorie von Allem würde einem in exakten Worten sagen, worin das Problem besteht, doch das trägt möglicherweise nichts zur Lösung bei.
Nehmen wir zum Beispiel an, wir hätten sehr genaue Regeln für Elementarteilchen, Regeln, die wirklich alles festlegen, was Elementarteilchen betrifft. Trotzdem ist ziemlich klar, daß diese Regeln uns
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