Die Geliebte des Gelatiere
Fortschritte. Die dritte Antibiotika-Kur schlug an, und nach drei Monaten Krämpfen und Bauchschmerzen war ich zum ersten Mal ohne Beschwerden. Ich lebte nicht mehr nur von Karottensuppe und Fencheltee oder vom Apfelmus meiner Mutter. Reis, Bananen, Avocados kamen hinzu, nach und nach auch Fleisch. Nur Fisch, Salat und Milchprodukte mied ich.
Fast unmerklich kehrte meine Kraft zurück. Ich spürte, wie sich mein Zustand verbesserte. Zum ersten Mal in meinem Leben wagte ich, den Fondamenta degli Incurabili entlangzugehen. Ich fühlte mich wie neu geboren. Es war, als hätte man mir ein zweites Leben geschenkt.
In der Nähe des Incurabili-Gebäudes setzte ich mich ans Ufer und schaute auf den Kanal. Auf dem Wasser waren Dutzende von Barken und Barkassen, die zur Giudecca oder von dort nach Dorsoduro hinüberwechselten. Ich wusste, dass auch ich einen Wechsel brauchte, dass sich in meinem Leben etwas ändern musste.
Musste ich, wenn ich kein Eis mehr essen konnte, meinen Beruf aufgeben? Oder sollte ich mich von nun an ausschließlich um die Zutaten kümmern? Die richtige Wahl der Zutaten war neben der Luft und dem Wissen um den richtigen Augenblick beim Rühren und Gefrieren das Wichtigste. Schon vor meiner Krankheit hatte ich mich nicht mit der erstbesten piemontesischen Haselnuss zufrieden gegeben, sondern die beste von allen gesucht. Hatte nicht die erstbeste friulanische Milch und die erstbesten ligurischen Kräuter verwandt, sondern mich um eine besonders natürliche Milch und die würzigsten Kräuter bemüht. War jetzt die Zeit, noch einen Schritt weiter zu gehen und die Politik der Zutaten noch rigoroser zu betreiben? Der Trend ging ja Richtung Natur und Natürlichkeit, und mit den fettfreien Sorbets für Kalorienbewusste hatten wir bereits neue Wege beschritten.
Und die Frauen? Ratlos starrte ich auf das vorbeiziehende Kreuzfahrtschiff, die Ikarus Palace, an deren Reling Hunderte von Passagieren standen. Hoch über der Stadt glitten sie dahin und schauten auf Menschen und Dächer herunter, lachten, winkten und fotografierten.
Um Ruhe vor den Touristen zu haben, begann ich, meine Spaziergänge über das Dorsoduro hinaus auszudehnen. Mit dem Vaporetto fuhr ich nach Sant’Erasmo, wo nichts vom Gedränge und Geschiebe der Stadt zu spüren war. Im Grunde gab es hier nichts zu sehen, und gerade das war das Aufregende daran. Keine Kunst, keine Baugeschichte, kein Gewerbe, sondern Gemüse, Obst und Artischocken. Einfache Häuser, Schuppen und Hütten, ab und zu ein Kanal, der die grünen Felder durchschnitt.
Die Gezeiten und das Wechselspiel von marino und lagunare ließen den Wasserspiegel steigen und sinken. Das helle Blau der Adria vermischte sich mit dem von Sümpfen durchzogenen Grün der Lagune zu schillernden Zwischentönen. Durch den Canale di Sant’Erasmo strömte Meerwasser ein und überschwemmte den Bàcan-Strand an der Südostspitze der Insel.
Während ein Kahn durch den Kanal blubberte, setzte ich mich auf einen Plastikstuhl und schaute auf die Schiffe, die in der Fahrrinne des Porto di Lido vorbeizogen. Als der Wasserspiegel wieder sank und Sandbänke auftauchten, steuerte ein kleines Boot einen dieser Flecken an, Ausflügler packten Stühle und Proviant aus und markierten ihren Ankerpunkt mit einem bunt gestreiften Sonnenschirm.
Stundenlang beobachtete ich das Spiel von Ebbe und Flut. In der Abgeschiedenheit der Gemüseinsel, unter der Obhut des Heiligen Erasmus, des Nothelfers der Kranken, hoffte ich klarer zu sehen und zu einem Schluss zu kommen. Ich hoffte, dass die Tausende Artischocken, die hier wuchsen, anregend wirkten. Im Archiv hatte ich bei arabischen Heilkundlern vom reinigenden Effekt der Gemüseartischocken gelesen. In einer Osteria aß ich Tagliolini con castraure di Sant’Erasmo. Die Sprösslinge schmeckten ausgezeichnet, und ich konnte mir vorstellen, mit ihnen auch ein delikates Eis zubereiten zu können. Aber meinen verschwommenen Geist machten sie nicht klarer. Die pharmazeutische Wirkung des Cynarins schien sich auf andere Bereiche zu beschränken. Etwas Entscheidendes konnte man offenbar von nichts und niemandem erwarten – außer von sich selbst. Aber wenn man warten musste, wie sich die Dinge entwickelten, wenn man außerstande war, die Situation einzuschätzen? Wenn die Kraft zurückgekehrt war, die Intuition einen aber verlassen hatte? Ohne meinen Weg zu kennen, schlenderte ich auf einsamen Pfaden zur Anlegestelle des Vaporetto zurück.
Zu Hause machte ich mich daran,
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