Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)
lugte auf die
Nadeln in meinem Knie und weiter unten an meinem Knöcheln. „Wozu sind sie?“,
fragte ich neugierig.
„Sie sollen Euren Körper unterstützen, die Energie
dorthin zu transportieren, wo sie Eure Füße benötigen.“ Itosu sah sich meine
Beine näher an und zog die Nadeln schließlich wieder heraus. „Das dürfte
reichen für heute“, sagte er. Er verließ den Raum und ich hörte draußen das
Blubbern von kochendem Wasser.
„Ich möchte gerne aufstehen“, rief ich dem alten
Mann hinterher.
„Dazu ist es noch zu früh“, tönte es zu mir
herüber. „An Eurer Stelle würde ich mich noch ein wenig ausruhen, bevor Ihr
daran denkt, Eure Füße wieder zu gebrauchen.“
Unschlüssig starrte ich an die Decke. Schließlich
brach ich das entstandene Schweigen. „Ihr habt mir noch nicht gesagt, wo ich
hier bin.“
„In der Hütte von Itosu Gishin.“
„Das weiß ich. Aber wo ist das?“
„Das kommt darauf an, von welchem Standpunkt Ihr
das betrachtet. Mein nächster Nachbar würde sagen, es ist weit entfernt, aber
der Vogel auf dem Baum nebenan ist wohl anderer Meinung.“
Der alte Mann tat geheimnisvoll; aber ich war noch
zu müde, um mich auf ein Ratespiel einzulassen. Er wirkte nicht gefährlich und
so legte ich mich wieder zurück und beobachtete, wie er schließlich im Zimmer
auf und ab ging, während er Ordnung schaffte.
Er hatte die alten Tücher zusammengerafft und
hinausgetragen. Draußen blubberte noch immer das Wasser vor sich hin und ich
nahm an, dass er die besudelten Verbände auskochte.
Wieder fiel mein Blick auf meine dick
eingewickelten Füße. Vorsichtig bewegte ich die Zehen, aber nach wie vor war da
dieses unbeschreibliche, unwirkliche Gefühl der Taubheit. Die Füße juckten und
ich rieb sie aneinander.
„Lasst das bitte bleiben“, rief Itosu von außen
herein.
„Ich mache doch gar nichts“, antwortete ich.
„Ihr reibt Eure Füße aneinander. Das reizt Eure Wunden
nur noch mehr.“
„Woher wisst Ihr das?“, fragte ich verwundert.
„Dass es Eure Wunden reizt? Na, das dürfte eine
logische Folge auf die Reibung sein.“
„Nein“, lachte ich, „woher wisst Ihr, dass ich meine
Füße aneinander reibe.“
„Das kann ich hören“, antwortete Itosu schlicht.
„Hört bitte auf damit, sonst verrutscht am Ende alles.“
Konzentriert versuchte ich, meine Beine still zu
halten.
Nach einer Weile kam der alte Mann wieder herein.
In der Hand hielt er eine dampfende Schale. „Habt Ihr Hunger?“, fragte er.
Vorsichtig richtete ich mich auf und nickte.
Itosu kniete sich. Mit der einen Hand stützte er
mich und mit der anderen führte er die Schale an meine Lippen. Die Suppe
schmeckte sehr würzig.
„Das wird Euch stärken. Ihr müsst langsam Euren
Kreislauf wieder in Schwung bringen.“
Vorsichtig trank ich in kleinen Schlucken von der
Flüssigkeit. Ich war nun schon einige Minuten gesessen und konnte die Schale
alleine halten.
„Kann ich etwas Fleisch haben?“, fragte ich, doch
Itosu schüttelte den Kopf.
„Fangt langsam an, Mädchen. Ihr habt tagelang
nichts gegessen.“
„Tagelang?“, fragte ich erstaunt. „Wie lange bin
ich denn schon hier?“
Itosu sah zur Tür hinaus und schien nachzurechnen.
„Wir haben Halbmond. Der Mond war voll, da wart
Ihr bereits einige Tage hier.“
Bestürzt schwieg ich. Suchte man nach mir? Würde
man mich hier finden?
Als schien Itosu meine Gedanken zu erraten, sagte
er: „Es ist auch keiner gekommen, um nach Euch zu fragen. Es scheint, als ob
man Euch nicht vermisst.“
Seine Feststellung hatte nichts Verletzendes und
war frei von Neugierde. Ich konnte seine ehrliche Anteilnahme spüren und wusste
nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte.
„Was ist mit meinen Füßen?“, fragte ich erneut.
„Sind sie schwer verletzt?“
Itosu überlegte eine kurze Weile und schien
mehrere Antworten abzuwägen. Dann aber entschied er sich offenbar für die
Wahrheit, denn es war schrecklich, was er mir erzählte.
„Sie sind Euch auf Eurer Reise da draußen in der
Kälte erfroren“, sagte er und beobachtete mich. „Ich habe Euch im Schnee
gefunden – halbtot. Aber Eure Seele wollte anscheinend noch nicht aufgeben und
so gelang es mir, Euch in meinem Haus soweit zu pflegen, dass Ihr wieder aufgewacht
seid.“ Itosu schien sich alles noch einmal vor Augen zu führen und blickte in
die Ferne. „Niemand war bei Euch und es war so viel Neuschnee gefallen, dass
ich auch keine Spuren fand. Es war ein Wunder, dass ich
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