Die Geliebte des Normannen
der Atem. »Alle großen Männer haben überall Spione, Mary; das wisst Ihr doch sicher. Hat Euer Vater nicht Euch?«
Mary versuchte, ihn zu schlagen, doch er hielt ihren Arm fest, und plötzlich fiel ihr Umhang zu Boden, sie wurde an die raue Steinmauer gedrückt – und Henrys Körper presste sich an ihren.
»Lasst mich sofort los. Stephen wird Euch töten!«
Sie schrie jedoch nicht. Sie sah, dass die Wachen auf der anderen Seite der Brustwehr waren, ihnen den Rücken zukehrten und nichts merkten. Was Henry ganz offenbar wusste.
»Oder ich töte ihn.« Henry lachte. Mary war entsetzt. »Aber ich werde ihm von unserem Tête-à-Tête nichts sagen, wenn Ihr es nicht tut.«
Mary starrte in sein schönes Gesicht, seine funkelnden Augen. Sie wollte spucken und kratzen, aber er hielt sie fest. Sie wusste, dass sie nichts sagen würde, weil Henry der Bruder des Königs und zudem ein furchtloser Ritter war. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass er ihren Gemahl tötete.
»Beruhigt Euch«, sagte Henry mit belegter Stimme. »Ihr seid eine Schönheit, sicher, aber in Wahrheit schütze ich nur Stephen – und meine eigenen Interessen. Ich habe keine Absicht, Euch zu vergewaltigen, meine Süße, auch wenn ich Euch noch so gern unter mir spüren würde. Sicher ist es Euer Körper, der Stephen seine Pflichten gegenüber sich und seinem Land vergessen lässt. Ich gebe zu, dass ich mehr als neugierig bin. Nun, eine Einladung wäre etwas anderes. Die würde ich sofort annehmen.«
Henry richtete sich auf und ließ sie los.
Mary stand noch immer mit dem Rücken zur Wand und er vor ihr. Sie bebte, so stark war ihr Wunsch, ihn zu schlagen.
»Niemals werdet Ihr eine Einladung irgendeiner Art von mir bekommen!« Doch ihre Tapferkeit war gespielt; sie bebte vor Furcht. Wären die Wachen nicht da gewesen, Henry hätte sie ohne Weiteres vergewaltigen können; sie hätte ihn nicht abzuhalten vermocht. Sie traute ihm ein solches Verhalten ohne Weiteres zu.
»Ich weiß, dass sich hinter diesem zerbrechlichen, scheinbar unschuldigen Äußeren eine echte Frau versteckt; das habe ich schon bei unserer ersten Begegnung gespürt. Ihr könnt nicht ohne einen Mann auskommen. Und Stephen wird Eure Heimtücke nicht lange ertragen. Eines Tages werdet Ihr einen fatalen Fehler begehen, Mary. Fatal. Er wird Euch nie vergeben, und er wird Euch wegschicken, wie er es bereits hätte tun sollen. Aber habt keine Angst. Ich werde Euch nicht vergessen. Selbst wenn Ihr in ein Kloster eingesperrt seid, werde ich Euch nicht vergessen.«
Mary rührte sich nicht. Henrys Selbstvertrauen und Arroganz waren furchterregend. Die Absicht hinter seinen Worten war nicht misszuverstehen. Wenn Stephen sie verbannte – und er glaubte, das würde bald geschehen –, dann würde er da sein, um ihren Kummer zu lindern – auf körperlichem Gebiet. Sie schauderte. Gott stehe ihr bei; wenn sie je fortgeschickt würde, dann stünde Henry bald vor ihrer Tür, daran hatte sie keinen Zweifel.
»Ich werde ihn nie verraten.«
Henry betrachtete sie stumm. Dann sagte er: »Wie seltsam, ich glaube Euch beinahe.«
»Er irrt. Ich habe ihn nicht verraten, und ich werde es auch nicht tun. Niemals.«
»Nein? Vielleicht habe ich Euch falsch beurteilt. Vielleicht müsst Ihr Euren Gemahl erst noch verraten, meine Freundin. Aber was, wenn ich Euch den wahren Grund für meinen heutigen Besuch in Alnwick mitteile?«
Marys Herz begann furchtsam zu schlagen.
»Welchen wahren Grund? Sicher sucht Ihr nur ein Bett und ein Dach über dem Kopf – nichts weiter!«
Henry lachte. »Ich weiß, dass Ihr so naiv nicht seid! Ich habe es Stephen bereits gesagt, und nun sage ich es Euch, eine Nachricht, die er zweifellos für sich behalten wird. Euer Vater, Euer erlauchter Sire, stellt das größte Heer auf, das Schottland je gesehen hat.«
Mary versuchte zu sprechen, doch ihr versagte die Stimme. Sie musste erst schlucken und sich die Lippen befeuchten.
»Weshalb?«, krächzte sie. Aber sie wusste es bereits.
»Um sich zu rächen, natürlich. Genauer gesagt, Malcolm hat geschworen, England in die Knie zu zwingen, und seine Invasion in Northumberland steht unmittelbar bevor.«
22
Mary floh. Sie meinte, Henrys leises Lachen hinter sich zu hören, doch in ihrem Schock war sie sich nicht sicher. In ihrer Eile stolperte sie kurz vor dem Ende der steilen Wendeltreppe und fiel hin, aber zum Glück verletzte sie sich nicht, sondern kam mit dem Schrecken davon.
Sie hielt sich den Bauch. Lieber Gott,
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