Die Geliebte des Normannen
was tat sie nur? Sie musste auf sich achtgeben! Wenn sie durch ihre eigene Unachtsamkeit ihr Baby verlöre, würde sie sich das nie verzeihen können. Um des Kindes willen musste sie vorsichtig sein.
Mary stand auf. Ihr schwirrte der Kopf, doch sie zwang sich nachzudenken. Sie zweifelte Henrys Worte nicht an, auch wenn sie das gerne getan hätte. Sie kannte ihren Vater; er hatte ein Vergehen nie ungestraft durchgehen lassen. Mary stöhnte. Man musste ihm Einhalt gebieten! Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was ein richtiger Krieg für sie alle bedeuten würde, für Schotten, Normannen, Malcolm, Stephen, sie selbst.
»Mary?«
Beim Klang der Stimme ihres Gemahls fuhr Mary zusammen. Er stand, eine Wachskerze hochhaltend, in dem schmalen, dunklen Korridor. Mary bemerkte, dass sie sich an der Wand festhielt und sich noch nicht von der Treppe wegbewegt hatte. Nun starrte sie auf Stephen, als sei er ein Fremder.
»Geht es dir gut? Bist du hingefallen?«
Er trat rasch zu ihr.
Offensichtlich war er besorgt. Mit einem leisen Aufschrei flüchtete sie sich in seine Arme. Nicht nur, dass er sich um sie sorgte, sie brauchte ihn! Sie brauchte ihn in dieser dunk len, furchterregenden Zeit als Verbündeten, sie brauchte Trost und Hoffnung, sie brauchte seine Stärke. Zu ihrer Bestürzung hielt Stephen sie nicht fest. Mit grimmiger Miene schob er sie entschlossen von sich, als wolle er sie nicht anfassen.
»Bist du gefallen?«, wiederholte er. »Bist du verletzt?«
»Nein«, sagte sie und ballte die Fäuste, damit sie nicht noch einmal nach ihm greifen würde. Er mochte besorgt sein, aber er hatte ihr nicht verziehen, und Edwards Besuch war ihm offenbar noch zu frisch im Gedächtnis. »Ist es wahr, dass Malcolm einen Krieg plant? Plant er, schon sehr bald in Northumberland einzufallen?«
Stephens Blick verfinsterte sich. »Und wie, wenn ich fragen darf, hast du von diesen Dingen erfahren?«
Sie war sicher gewesen, dass Henry die Wahrheit gesagt hatte, aber trotzdem schrie sie gequält auf, als Stephen es bestätigte. Doch sein bitterer Sarkasmus entging ihr nicht.
»Ich habe nicht spioniert!«, rief sie zitternd. »Dein guter Freund Henry hat es mir gesagt. Stell dir das vor!«
Mary drückte sich von der Mauer ab und stapfte an Stephen vorbei, doch er packte sie sofort am Arm und brachte sie in ihr Gemach. Dort angekommen, stellte sie sich vor das wärmende Feuer und wandte ihm den Rücken zu.
Sie wusste, dass er sie beobachtete. Schließlich drehte sie sich um und begegnete seinem durchdringenden Blick.
»Henry hat es mir gesagt«, wiederholte sie. »Er ist noch immer auf der Brustwehr. Frag ihn, wenn du mir nicht glaubst!«
»Dieses Mal glaube ich dir«, erwiderte Stephen ruhig. »Henry hält sich für einen Puppenspieler, er meint, bei allen um ihn herum die Fäden zu ziehen. Aber im Gegensatz zum Marionettenspieler kann er nie ganz sicher sein, was seine Puppen tun. Ich glaube, daraus gewinnt er die größte Freude.«
»Und er ist dein Freund?«
»So sehr, wie jemand, der nicht zu Familie gehört, ein Freund sein kann«, sagte Stephen. »Henry gefällt es, Probleme zu machen. Ich denke, er hat heute Abend schon genug Übel verursacht. Und was nun? Wirst du nun schreien und kreischen und mich darum bitten, diesen Zusammenstoß zu vermeiden?«
»Wenn mein Vater dein Land überfällt, musst du verteidigen, was dein ist. Eure Heere werden direkt aufeinandertreffen.« Mary zitterte; sie stellte sich vor, wie zwei gigantische Armeen aufeinander einstürmten, sie hörte das harte Klirren von Metall auf Metall, die Schreie von Qual und Tod.
»Ja.«
Plötzlich erstarrte sie. Eine schreckliche Befürchtung, die Vorahnung einer Katastrophe, von Tod, befiel sie. Wer? Wer würde es sein? Nicht Stephen! Bitte, lieber Gott, nicht Stephen. Sie schluckte schwer.
»Aber es muss nicht so weit kommen. Es ist noch nicht zu spät. Malcolm ist noch nicht ins Land eingedrungen. Bitte, Stephen, du musst zu ihm gehen!«
»Du würdest mich unmittelbar vor Ausbruch eines Krieges dem Feind in den Rachen werfen?«
Mary stürzte auf ihren Gemahl zu und ergriff seine Hände. »Dieser Krieg muss nicht sein!«
Er schüttelte sie ab. »Bist du verrückt? Oder hältst du mich für verrückt?«
»Du verstehst mich nicht«, rief sie. Ihr Verstand raste, ihr Puls hämmerte in den Ohren. Wenn sie musste, dann würde sie auch betteln, auf Händen und Füßen, denn es ging einfach um zu viel. Dem Krieg zwischen ihrem Vater und ihrem Gemahl
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