Die Geliebte des Normannen
Truppenkontingents. Seine zahlreichen Männer lagerten vor den Mauern der Burg; sie bevölkerten das Moor, so weit der Blick reichte. Die Landschaft verwandelte sich in ein provisorisches Dorf. Aus Angst, vergewaltigt zu werden, versteckten sich die einheimischen Mädchen. Die Bauern der Gegend schluckten ihren Gram darüber hinunter, dass – auf Stephens Befehl hin wie auch ohne diesen – ihr Vieh geschlachtet wurde, um die vielen Soldaten zu ernähren. Es hatte tagelang geregnet, doch nun klärte sich das Wetter auf, was die rastlosen Söldner, die von der unfreundlichen englischen Witterung genug hatten, sehr freute. Turnierkämpfe wurden ausgetragen, auf Mädchen Jagd gemacht und alles getan, damit sich die Männer amüsierten.
Mary war froh, dass sie nur eine Nacht bleiben wollten. Eine der Küchenmägde war den Soldaten in die Hände gefallen; Mary hatte ihre brutale Grausamkeit direkt mitbekommen und das arme, weinende Mädchen versorgt. Die Neigungen frisch aus der Schlacht kommender Soldaten waren ihr zwar nicht fremd, doch Henrys Söldner waren schlimmer als alle, die sie bislang erlebt hatte.
Obwohl sie von den Ereignissen der Nacht zuvor noch sehr beunruhigt war, obwohl sie zornig genug war, um Stephen ignorieren zu wollen, so wie er sie nun ignorierte, konnte sie den Mund nicht halten. Sie suchte ihn auf, um gegen die Präsenz der undisziplinierten Normannen vehement zu protestieren und um herauszufinden, weshalb sie überhaupt im Norden waren.
»Es ist nur für diesen Tag und diese Nacht«, sagte Stephen. »Henry konnte sie nicht zurückhalten, selbst wenn er es gewollt hätte.«
»Aber Ihr erlaubt Euren Männern nicht, das Land zu verwüsten und zu vergewaltigen und zu verstümmeln, wie es ihnen gefällt!«, brauste Mary auf. Bebend vor Zorn funkelte sie ihren Gemahl an, einem Zorn, der von weit mehr ausgelöst wurde als von dem Thema, über das sie gerade sprachen.
»Meine Männer sind keine Söldner«, erklärte Stephen, und dann schickte er sie fort, bevor sie ihm weitere Fragen stellen konnte.
Mary hatte nicht erwartet, dass Stephen in der Lage sein würde, diesen Missstand zu beseitigen. Sie würde nicht mehr protestieren und ihre Leute schützen, so gut sie eben konnte. Sie befahl den Wachen, allen Einheimischen als Schutz vor den normannischen Rittern Zugang zum Burghof zu gewähren. Dabei war sie sich der Ironie ihres Vorgehens wohl bewusst. Stephen sah sie als Außenseiterin, doch sie hatte seine Heimat und deren Menschen bereits ins Herz geschlossen und betrachtete es als ihre Pflicht, Alnwick und seinen Untertanen beizustehen. Ihr Gemahl würde es hoffentlich nicht bemerken, und falls doch, würde er, so glaubte sie, zumindest nicht so barbarisch sein, ihre Anordnungen zurückzunehmen.
Aber was in Gottes Namen machte der Prinz hier? Es wurde zwar gemunkelt, er gehe nach Carlisle, um die derzeitige Garnison dort zu entlasten, doch Mary hatte schreckliche Angst, dass seine Anwesenheit wesentlich mehr bedeutete als das.
Henry machte sie nervös. Tatsächlich machte er sie weit nervöser als seine marodierenden Truppen. Sie traute ihm nicht. Er hatte scharfe, unruhige Augen, Augen, die viel zu viel sahen. Doch Mary war klug genug, ihm gegenüber freundlich zu sein.
Er saß mit ihr, Stephen und der Gräfin auf dem Podium, zwischen ihrem Gemahl und ihrer Schwiegermutter. Mary war froh, dass Stephen sie wenigstens mit seiner Körpergröße vor Henry abschirmte. Wenn er sich zu lange in ihrer Nähe befand, würde er bestimmt mitbekommen, dass etwas nicht stimmte.
Sie hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen. Nachdem sich Stephen von ihr abgewandt hatte, unternahm sie einen vergeblichen Versuch, ihn zu verführen. Sie wusste instinktiv, dass sie das verlorene Terrain dieses Tages zurückerlangen musste – Terrain, das sie während der vergangenen Woche mühsam erobert hatte. Sie konnte nicht zulassen, dass es mit ihrer Ehe weiter bergab ging. Doch er hatte sie harsch abblitzen lassen.
Seine unverhüllte Zurückweisung, die er nicht einmal höflich bemäntelt hatte, war der letzte Schlag gewesen. Sie war im Bett neben ihm in sich zusammengesunken und hatte sich zum erstenmal in ihrem Leben besiegt gefühlt.
Heute Morgen hatte sie in Isobels Spiegel die dunklen Ringe unter ihren Augen gesehen. Ein trauriger Anblick. Und nun streifte Henrys forscher Blick sie ständig. Das war äußerst unangenehm. Mary vermutete, dass er sie begehrenswert fand. Sie glaubte, dass er unanständige
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