Die Geliebte des Normannen
sie nur zu gut. Selbst wenn Stephen Alnwick noch nicht verlassen hätte, könnte sie ihn nicht um seine Erlaubnis fragen. Er würde ihr ihre aufrichtige Absicht nicht glauben, sondern wieder Verrat wittern. Deshalb musste sie Alnwick ohne sein Wissen verlassen.
Mary wollte sich nicht vorstellen, was geschehen könnte, wenn sie zu Malcolm ging und ihn dann nicht überzeugen konnte, seine Armeen zur Umkehr zu bewegen. Der Gedanke war zu erschreckend.
Ich muss verrückt sein, dachte sie, als sie ihre Flucht plante.
Wer bin ich denn zu glauben, ich könnte einen Krieg zwischen zwei großen Häusern abwenden?
Aber sie würde nicht mehr in Frieden leben können, wenn sie es nicht versuchte. Sie sehnte sich nach Frieden wie nie zuvor. Nach Frieden im Land und nach Frieden für sie und Stephen.
Als Mary vom Bett aufstand, waren Stephen und alle Männer der de Warennes fort. Der Aufbruch der Kämpfer im Morgengrauen hatte sie geweckt. Wieder war offenkundig gewesen, dass sie in den Krieg zogen. Dieses Mal waren es jedoch relativ wenige – viele Bewaffnete blieben zurück. Um Alnwick zu verteidigen? Mary wusste, dass es eine andere Erklärung nicht geben konnte. Dennoch glaubte sie es nicht. Hielten der Graf und Stephen eine Belagerung auch nur im Entferntesten für möglich?
Es musste so sein, wenn sie die Burg von gut vierzig Leuten bewacht zurückließen.
Mary war entsetzt. Nicht wegen ihrer Feigheit, sondern weil es ihr schwerfiel, sich vorzustellen, dass ihr Vater die Burg ihres Gemahls belagerte, wenn seine eigene Tochter sich dort befand.
Sie durfte nicht an so etwas Schreckliches denken. Stattdessen überlegte sie schnell, dass Stephens rascher Aufbruch nur bedeuten konnte, dass am Abend zuvor Reiter ausgesandt worden sein mussten, die die Vasallen zum Kriegsdienst zusammenriefen. Das hieß, dass Malcolms Invasion unmittelbar bevorstand und sie keine Zeit verlieren durfte.
Henry war wie geplant nach Carlisle weitergezogen. Mary verstand die wahre Absicht dahinter. Es ging nicht darum, die Truppen abzulösen, sondern sie zu verstärken und auf die Schlacht vorzubereiten. Wie konnte Malcolm glauben, eine solche Armee zu besiegen? Warum konnte er seine große Entschlossenheit nicht der Sache des Friedens widmen statt dem Krieg?
Weitere düstere Ahnungen drohten Mary zu überwältigen, deshalb wandte sie ihre Gedanken lieber der unmittelbar vor ihr liegenden Aufgabe zu. Sie beschloss, die Burg als Bauernjunge verkleidet zu verlassen und im Dorf nach Möglichkeit einen Esel oder ein Pferd zu stehlen. Als junger Bursche würde sie weitaus weniger Probleme haben, wenn sie alleine unterwegs war. Sobald es ihr sicher erschien, würde sie sich zu erkennen geben und ein gutes Pferd und eine schottische Eskorte bekommen.
Alnwick war überaus geschäftig, als Mary die Treppe herunterkam und den großen Saal betrat. Die hektische Betriebsamkeit erhöhte ihre Befürchtungen und bestärkte sie in ihrem Entschluss. Es wurden fieberhaft Vorbereitungen für eine eventuelle Belagerung getroffen. Der Graf hatte also nicht nur viele kampferprobte Ritter zur Verteidigung zurückgelassen, sondern auch befohlen, die Burg auf das Schlimmste vorzubereiten. Mary schauderte. Soweit sie wusste, galt Alnwick als uneinnehmbar. Doch der Graf war ein erfahrener Befehlshaber und ein hervorragender Stratege. Offenbar würde der Krieg, der nun drohte, ein Ausmaß annehmen, das sie noch nicht erlebt hatte.
Atemlos und in dem Wissen, dass sie es irgendwie schaffen musste, Malcolm von seinem Vorhaben abzubringen, hoffte Mary, unbemerkt durch den Saal und nach draußen zu gelangen. Das sollte aufgrund des herrschenden Tumults nicht allzu schwierig sein. Doch die Gräfin sah sie sofort und winkte sie zu sich.
Ihr Widerstreben verbergend, kam sie Lady Ceidres Aufforderung nach.
»Gut, dass Ihr so früh auf seid«, begann die Lady unumwunden, »es gibt so vieles zu tun. Ihr kümmert Euch darum, alles zusammenzutragen, was für die Verwundeten gebraucht wird. Wenn es zu einer Belagerung kommt, werden wir viele Opfer zu beklagen haben.« Die Gräfin zählte rasch eine Liste von Vorräten auf, die in den Wohnturm geschafft werden sollten.
Mary hörte zu und nickte, wohl wissend, dass sie keine sauberen Leintücher, muffiges Brot oder sonst etwas zusammentragen würde. Sie fühlte sich deshalb wie eine Verräterin. Doch wenn es ihr gelang, Malcolm umzustimmen, würde sie nicht als Verräterin dastehen, sondern als Heldin gelten.
Der Gedanke
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