Die Geliebte des Normannen
bekreuzigten sie sich oder machten alte heidnische Zeichen und hasteten davon. Mary war es gleichgültig, was sie dachten. Hätte sie sein Kind nicht in sich getragen, sie hätte womöglich alle Hoffnung verloren, und ihren Verstand dazu.
Jegliches Zeitgefühl kam ihr abhanden. Doch irgendwann hörte es auf zu schneien. Es war, so sagte die Kastellanin, ein besonders frostiger Winter gewesen. Nun blies nur der stetige Wind, und eines Nachmittags drang die Sonne durch die tief hängenden, dicken Wolken. Und eines Tages, als Mary im Burghof etwas frische Luft schnappte, sah sie frisches grünes Gras aus der Erde sprießen.
Sie blickte zum Himmel hinauf. Er war bleich, verwaschen blau, aber immerhin blau, und die Sonne strahlte leuchtend gelb. Mary lächelte. Es war März, und plötzlich konnte sie den Frühling riechen. Sie atmete tief ein. In diesem Augenblick ließ ihre Schwermut nach. Sie hatte einen langen, dunklen und trübseligen Winter überlebt, und mit einem Mal spürte sie wieder Hoffnung. Der Frühling bedeutete Erneuerung und Wiedergeburt. Wenigstens konnte sie sich nun auf angenehme Tage freuen, und mit dem Herannahen des Sommers auf die Geburt ihres Kindes. Bei diesem Gedanken hüpfte ihr das Herz in der Brust.
Und es konnte nun nicht mehr lange hin sein, bis Stephen kam.
»Reiter, Mylady!«
Mary blickte vom Podium auf, wo sie allein beim Mittagessen saß. Sie legte das Messer beiseite.
»Reiter?«
»Sie sind noch zu weit weg, um sie zu erkennen, aber es ist ein ganz ordentliches Kontingent, mit einem Banner, Mylady«, sagte der Mann. Er war gerade von dem einzigen Wachturm gelaufen gekommen und noch außer Atem.
Mary bewegte sich nicht, aber ihr Herz donnerte so stark, dass sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Stephen. Sie wusste es. Oh Gott, sie wusste es. Hochstimmung ergriff sie, Aufregung und Furcht. Oh Gott, sie musste alles richtig machen! Sie musste ihn zurückgewinnen!
Mary sprang auf. Sie war im fünften Monat schwanger, aber weil sie sehr klein war, sah man ihr das, wenn sie bekleidet war, noch nicht wirklich an. Natürlich würde er sofort bemerken, dass sie Gewicht zugelegt hatte; ihr Gesicht war voller, ihre Brüste schwerer. Plötzlich hatte Mary dop pelt Angst. Was, wenn sie nicht mehr so hübsch war wie früher?
Sie rannte in ihr Gemach hinauf, um ihre Kleidung zu überprüfen und sämtliche Haarsträhnen unter den Schleier zu stecken. Dann ließ ein Gedanke sie erstarren. Stephen hatte ihr Haar immer sehr geliebt. Verheiratete Frauen trugen es zwar nicht offen, aber nun, da sie keine gute Figur mehr hatte, gereichte es ihr zur Zierde. Mary zögerte ... Sie würde es offen tragen. Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen öffnete sie ihr Haar und flocht die Zöpfe auf. Üppig und goldglänzend fiel es ihr bis über die Hüften. Wenn sie sich einer Sache sicher war, dann der, dass ihr Haar nie schöner ausgesehen hatte. Mit zitternden Händen bürstete sie es rasch aus.
Sie war inzwischen so nervös, dass sie sich krank fühlte. Die Männer waren bereits unten im Saal zu hören. Mary versuchte, sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Oh Gott. Was, wenn er sie immer noch hasste?
An der Tür ihres Gemachs sprach sie ein kurzes Gebet. Dann straffte sie die Schultern und hielt den Kopf hoch. Sie öffnete die schwere Tür, hielt inne und ging dann gemessenen Schrittes die Treppe hinunter.
Am Eingang zum Saal blieb Mary stehen. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. Am Tisch saß ein Mann, aber es war nicht Stephen, sondern Prinz Henry, der sich auf dem Podium räkelte, als sei er der Herr von Tetly. Und als er sie sah, lächelte er, und in diesem Lächeln lag all sein Vorsatz. Wie er in jener dunklen, einsamen Nacht auf der Burgmauer von Alnwick versprochen hatte, war er gekommen.
Mary starrte wie gebannt auf ihn. Henry starrte zurück. Er reagierte amüsiert auf ihren Schock; sein Blick wanderte von ihrem Gesicht über die Haare und dann ihren Körper hinab und traf schließlich wieder den ihren.
»Wie schön Ihr seid«, bemerkte er.
Marys Herz schlingerte vor Furcht.
Seine Augen hefteten sich auf ihre üppigen Brüste, über die sich der Stoff ihrer Tunika spannte.
»Wirklich, Ihr wart noch nie so schön, Mary«, sagte der Prinz.
Ihr sank der Mut. Doch dann kam Leben in sie, und sie bedauerte die Dummheit, ihr Haar geöffnet zu haben. Aber nun war es zu spät. Bleich, verschreckt und entschlossen, Henry wieder fortzuschicken, sobald sie in Erfahrung gebracht hatte, wo
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